Reinhard Ermen

Matthias Beckmann

Kunstforum International, Band 231, 2015, Titel: Zeichnen zur Zeit VII, S. 166

Matthias Beckmann zeichnet vor Ort. Er braucht keine andere Vorlage als die gerade anvisierte Situation. Die ergreift er im Sehen, ja, es scheint so, als lege er wie in einer Art skelettierenden Solarisation die offensichtliche Lineatur frei. Der dafür notwendige Röntgenblick scheint angeboren. Mühelos durchdringt er die verwirrenden Ablenkungen des farbigen Hell-Dunkels, zurück bleibt ein netzartiges Konzentrat, das nichts Wichtiges vergisst. Details sind zu erkennen, Vorne und Hinten, Nähe und Ferne schaffen den Raum, Gegenstände, Schattenfugen oder die Maserung des Holzes werden in den sich bietenden Umrissen entsprechend übersetzt. Eine strukturelle Plausibilität hat das Sagen, die immer ein wenig am Rande eines ornamentalen Realismus steht. Trotz der partiell automatisch anmutenden Übertragungsarbeit ist die Fähigkeit vorhanden, zu ignorieren, zu übersehen, was den Blättern immer wieder schöne Freiflächen, bzw. natürliche Gewichtungen beschert. Festgehalten wird nur das Notwendigste. Ohnehin wirken diese Zeichnungen wie im Weiß aufgehängt. Garant ihrer eigenen Bildlichkeit ist neben dem sondierenden Spürsinn der durchaus gleichmäßige Strich (am liebsten mit dem Bleistift), denn es gibt hier keine linearen Hierarchien. Matthias Beckmanns Linien sind, um es ganz schlicht zu sagen, immer gleich dick, was eine individuelle Führung mit einschließt. Aus der Handarbeit ergeben sich selbstverständliche Momente, in denen der Strich leicht bebt, der Künstler braucht schließlich kein Lineal, in Kurven und Anschlüssen liegt eine emotionale Kraft, die sich freilich nur unter dem Vergrößerungsglas zeigen. Trotz der gelegentlich perfekten Aneignung in der realitätsnahen Aufzeichnung, sind das Skizzen oder Entwürfe von etwas Gesehenem. Der Zeichner formuliert im wortwörtlichen Sinne seine Ansichten.  

Kunst über Kunst ist ein Thema, das ihn ständig beschäftigt. Gerne wird Matthias Beckmann als Chronist, als Zeuge geladen, zum Beispiel 2009 ins Hessische Landesmuseum Darmstadt, bevor dort für eine gründliche Sanierung die Pforten auf Jahre geschlossen werden. In der Berlinischen Galerie hat er 2009 seine „Raum, Blicke“ gezeichnet, und das Museum Ostwall im Dortmunder U hat ihn 2013 für eine Reportage geladen. Das sind nicht ausschließlich seine Themen, aber die Kunstkreisläufe scheinen ihn doch magisch anzuziehen, so hat er zwischen 2010 und 2012 insgesamt 88 Berliner Ateliers aufgesucht, um zu dokumentieren, wo die Künstlerkolleginnen und Kollegen arbeiten. So wie es in seiner Lineatur an sich keine Hierarchien gibt, so objektiviert er auch seine Atelierperspektiven. Jeder Arbeitsplatz ist gleich bildwürdig, egal ob ein Großverdiener oder ein eher stiller Meister zu Gange ist. Die Attraktion geht von der Umgebung aus, der Beckmannsche Blick wählt charakteristische Ausschnitte, der Rest ergibt sich in der aufzeichnenden Darstellung; ironische, ja surreale Momente mit eingeschlossen, etwa die verdoppelte Jorinde Voigt. Es gibt Horror Vacui Schauplätze (Wolfgang Petrick) und hochkonzentrierte, von allen ablenkenden Details entleerte Nahaufnahmen (Rainer Splitt). Die Terminologie der Fotografie drängt sich gelegentlich auf. Der Zeichner erfasst in seinem Sucher sozusagen das spezifische Gewicht einer Umgebung, das ist auf ihre Art eine Seismographie, mit Ergebnissen, die letztlich nur mit dem Augenschein zu suchen sind. Eine Beobachtung von Freya Mülhaupt geht möglicherweise in eine ähnliche Richtung: „Matthias Beckmann entführt uns in einen Irrgarten der Linien, in ein Labyrinth der Blicke.“  

Alles, was hier geschieht, wird letztlich zu einem Ereignis des Mediums. Nebensächlichkeiten werden selbstverständlich eingemeindet, besser: Es gibt keine Nebensächlichkeiten! Der objektivierende Dokumentationsprozess mag seine eigene, enigmatische Nachrichtenebene haben, doch das Ereignis ist die Zeichnung an sich und ihre demokratisierende auch virtuose Aufnahmefähigkeit; vorzugsweise auf DIN A-4. Zur vorherrschenden Umrisslinie (siehe oben) kommt ein anderes Charakteristikum. Matthias Beckmann ist ein Purist, er vermeidet die Schraffur, die eine Zeichnung erst gemütlich machen kann. Eine durchaus unromantische Paradigmatik herrscht vor. Seit einiger Zeit arbeitet er auch mit trickreichen Animationen. An der neuen Gefälligkeit des Mediums hat seine Position keinen Anteil. Die Luft ist dünn, das „Labyrinth“ erscheint gläsern. Der Mann arbeitet so, weil er so arbeiten muss. Eine grundsätzliche Faktizität der Moderne gilt auch hier: Spannend ist weniger, was er protokolliert, sondern wie er es in Zeichnung auflöst, bzw. übersetzt.  

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