Jürgen Raap

Matthias Beckmann

»Aura und Alltag - Zeichnungen und Radierungen«

Emmanuel Walderdorff Galerie, Köln 9.2. - 11.4.2008

Kunstforum International, Bd. 190, März – April 2008

 

Woran erkennt man eigentlich, dass ein Bundestagsabgeordneter nur ein unbedeutender Hinterbänkler ist? Der Künstler Matthias Beckmann hat mit dem Zeichenstift eine Interview-Szene im Reichstagsgebäude dokumentiert. Nur spärliche drei Reporter scharen sich um den Politiker, während man allabendlich in der „Tagesschau“ beobachten kann, wie die prominenteren Kollegen von der Journalistenmenge fast erdrückt werden.

Als Beckmann vor einigen Jahren von Köln nach Berlin zog, begann er, seinen neuen Wohnort mit Skizzenblock und weichem Bleistift zu erkunden. Nicht das „Typische“, d.h. nicht das folkloristisch Verbrämte oder touristisch Bekannte interessierte ihn, sondern die Beiläufigkeit einer Tankstelle, die Vertrautheit von Plakaten an der Friedhofsmauer oder die Teilnehmer an der 1. Mai-Demonstration. Wenn Beckmann in Museen oder im Reichstagsgebäude zeichnet, richtet sich sein Blick ebenfalls immer auf das Unprätentiöse: Er hält die Saaldiener des Bundestags an ihrem Schreibtisch im Bild fest, die Warteschlagen vor dem Kassenhäuschen zu einer „Blockbuster“-Ausstellung, die Besucher im Museum, die Ausschilderung, die Überwachungskameras, das Gerät zum Messen des Raumklimas und die Lamellen der Deckenbeleuchtung. Sich als Zeichner im Bundestag frei bewegen zu dürfen, war zunächst gar nicht so einfach gewesen. Erst als Beckmann sich als „Praktikant“ bei Franz Müntefering anstellen ließ, durfte er ungehindert auf dem Zeichenblock die Lesetische der Parlamentsbibliothek oder die kyrillische Graffiti festhalten, die russische Soldaten 1945 im zerbombten Reichstag hinterlassen hatten.

Dass ein Künstler einer selbst gewählten Thematik so intensiv mit dem Zeichenstift nachgeht, ist heute ungewöhnlich. Im kommerziellen Ausstellungsbetrieb werden Handzeichnungen ja normalerweise recht selten ausgestellt. Doch man spürt, wie bei Beckmann das Festhalten des Szenarios lediglich in Konturlinien ohne jegliche Schraffur zu einer eigenen Ästhetik führt, die sich von jener der Malerei oder Fotografie klar unterscheidet. Dies gilt auch dann, wenn sich Matthias Beckmann beim Zeichnen einer „Kameraperspektive“ bedient: Er „zoomt“ sich nah an Ausschnitte eines Sujets heran, oder er wählt den weiten Blickwinkel eines Panoramas, wie es auch ein Fotograf tun würde.

Zugleich dokumentiert er die musealen Ausstellungsstücke so, wie die Kunsthistoriker und Archäologen sie niemals fotografieren lassen würden. Da erfasst er in der Berliner Abguss-Sammlung antiker Plastik die berühmte Laokoon-Gruppe ganz bewusst nur ausschnitthaft, und bei der „Sphinx“ lenkt erst einmal der Handlauf des Geländers das Auge des Betrachters ab. Beim „Gänsewürger“ ragt ein Flaschenzug ins Bild. In der Abbildung eines Museumskatalogs würde er stören, oder man würde ihn bei der Betrachtung ignorieren. Bei Beckmann wird er hingegen zum zweiten Hauptmotiv. Bisweilen lenkt Matthias Beckmann sein bildliches Interesse mit Vorliebe auf komische oder paradoxe Effekte, wenn er etwa einen Studenten zeichnet, der im Museum sitzt und zeichnet. Oder er zeichnet das Schild „Fotografieren verboten“.

Im Laufe der Zeit gewann Beckmann jede Menge Einsichten in das Wahrnehmungsverhalten von Ausstellungsbesuchern, und diese Einsichten können museumssoziologisch durchaus von Bedeutung sein. So hat er z.B. beobachtet, dass die Besucher am längsten vor Videos und Schrifttafeln verweilen, sich die Gemälde aber oft nur kurz anschauen. Als Zeichner kann sich Beckmann in den Ausstellungssälen viel diskreter bewegen als ein Fotograf mit einem Equipment, den ein Besucher bei seiner müßigen Kunstbetrachtung sofort mit einem gewissen Unwillen als paparazzihaften Voyeur empfinden würde.

Alle Zeichnungen entstehen vor Ort. Beckmann nimmt grundsätzlich keine Korrekturen aus formalästhetisch-kompositorischen Gründen vor. Ob das Blatt die Ansicht einer Skulptur von oben oder die eigentliche Schauseite von vorne zeigt: Die Wahl der Perspektive beruht immer auf der unmittelbaren Wahrnehmung, nicht auf der Konstruktion. In der Charlottenburger Studiensammlung stehen die einzelnen Exponate der Abguss-Sammlung antiker Plastik tatsächlich so eng zusammen wie sonst nur in einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Depot. Auch über solche museologischen Inszenierungsstrategien erfährt man einiges bei Matthias Beckmann, der seine Ausstellung bei Emmanuel Walderdorff folgerichtigerweise mit „Aura und Alltag“ betitelt hat. Wobei über das Auratische Beckmanns Blättern zu entnehmen wäre, dass es im Parlamentsgebäude und in den einst bildungsbürgerlich abgeschotteten Museen heute unbefangener zugeht als zu Kaiser Wilhelms Zeiten, und das ist letztlich doch ein gutes Zeichen für die erfolgte Demokratisierung des Polit- wie des Kulturbetriebs.

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