Freya Mülhaupt

Die Zeichnungsfolge »Berliner Ateliers« von Matthias Beckmann führt in ein Labyrinth der Wahrnehmung

Kunstforum International, Band 208, Mai – Juni 2011, S. 252 – 257

 

„Das Atelier ist keine bloße Werkstatt, sondern zugleich ein mythisch überhöhter Ort der Inspiration. So gilt es als besonderes, nicht jedem vergönntes Privileg, den Künstler im Atelier zu besuchen. Sammler und Galeristen werden gerne dorthin eingeladen. Eine Bildserie, die sich mit Ateliers beschäftigt, bedient die Neugier des Betrachters, der sich einen Blick hinter die Kulissen erhofft, auch wenn in meinem Fall durch eine lineare, reduzierte Zeichenweise ein Wahrnehmungsfilter eingebaut ist.“
Matthias Beckmann

 

Mit der 2010 begonnenen Folge „Berliner Ateliers“ setzt Matthias Beckmann seine Zeichenprojekte der letzten Jahre fort. Sie haben ihn schon an viele Orte geführt, leistet er sich doch die Extravaganz eines aus der Mode gekommenen Modus der Bildproduktion: Er zeichnet mit Bleistift und Skizzenblock direkt vor dem Motiv. Er ist ein gegenständlicher, auf die Repräsentation von Wirklichkeit bezogener Künstler – ein Dokumentarist seiner unmittelbaren Umgebung. Er zeichnet „nach der Natur“, interessiert sich für sie aber am allerwenigsten. Sein natürlicher Lebensraum ist die Stadt, hier findet er seine Themen, bestimmt er seine Untersuchungsfelder, erstellt er im Zusammenspiel von Auge und Hand visuelle Inventare des Gegebenen.

Von der Wunderkammer über Oper und Jazzlokal bis ins Atelier

Beckmann hat schon die unterschiedlichsten Orte erkundet und in seinen Zeichnungen erschlossen: verschiedene Museen, den Deutschen Bundestag, die romanischen Kirchen in Köln, die Automobilproduktion bei Daimler, Kunst- und Wunderkammern in Deutschland und Österreich, die Komische Oper in Berlin, ein Jazzlokal in Berlin-Kreuzberg, ein Textil-Warenhaus am Alexanderplatz, die Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Radiologie und Pathologie eines großen Krankenhauses und Galerien in Berlin-Mitte. Kataloge und Bücher geben über eine Vielzahl seiner Zeichenprojekte Auskunft.

Nachdem Matthias Beckmann mehrfach in Museen und Galerien, Orten der Präsentation und Rezeption von Kunst, gezeichnet hat, richtet er mit seinem jüngsten Projekt den Blick auf die Räume der Produktion von Kunst, dorthin, wo hinter verschlossenen Türen sich eine fremde Welt voller Betriebsgeheimnisse zu verbergen scheint. Künstler können, wenn es um Besuche in ihrem Atelier geht, schwierig sein. Aber Beckmann wurde, wenn er anfragte, eingelassen.Doch auf die Anfrage des Zeichners haben sie aufgeschlossen reagiert, in der Regel auch die Künstler, die er zuvor persönlich nicht kannte. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn in ihre Ateliers gelassen haben, hat Beckmann beeindruckt. „Einige“ so bemerkt er im Gespräch, „haben sich durch meine Anwesenheit nicht von der eigentlichen künstlerischen Arbeit abbringen lassen, während andere eher praktische Dinge erledigt oder ungestört in einem Nachbarraum gewirkt haben. Manche haben für mich gekocht und wieder andere mir voller Vertrauen den Atelierschlüssel in die Hand gedrückt und für einige Stunden ihren persönlichen Raum anvertraut.“

Bislang war er in 31 Berliner Ateliers – bei Sonja Alhäuser, Fritz Balthaus, Gabriele Basch, Heike Kati Barath, Anne Berning, Sven Drühl, Eva & Adele, Wolfgang Flad, massoud graf-hachempour, Aline Helmcke, VanessaHenn, Gregor Hildebrandt, Thomas Huber, Esther Horn, Michael Kalmbach, Isabel Kerkermeier, Susanne Kutter, Alicja Kwade, Gerhard Mantz, Isa Melsheimer, Thomas Rentmeister, Karin Sander, Markus Sendlinger, Heidi Sill, Andreas Schmid, Caro Suerkemper, Peter Thol, Jorinde Voigt, Barbara Wille, Markus Willeke und Renate Wolff.. Er hat sich dort jeweils wenige Stunden aufgehalten, umgesehen und – zügig und ohne Korrektur – drei bis sechs Zeichnungen angefertigt.

Der nüchterne Blick auf die Zufälligkeit des konkreten Lebens

Immer treten seine Blätter in Gruppen oder Folgen auf, sind aber nicht streng linear miteinander verbunden. Sie ergänzen sich lose. Was sich an ihnen in der Zusammenschau verfolgen lässt, ist die Bewegung des Zeichners im Raum, der mal aus der Distanz einen größeren Ausschnitt erfasst, mal aus der Nähe ein Objekt fokussiert oder gleichsam im Vorübergehen seine Umgebung festhält. Beckmanns Zeichnungen legen, trotz ihrer strengen Linearität, den Vergleich mit fotografischen Momentaufnahmen, Close-ups und Filmsequenzen nahe, bleiben bei aller Lesbarkeit aber immer unaufgelöst und offen.

Rätselhaft bleibt bei den Atelierzeichnungen, womit sich die Künstler, wenn sie als Figuren auftauchen, so ernst und konzentriert beschäftigen, zumal ihre Werke im Bildraum häufig kaum auszumachen sind. Bilder sind in einer schwer einsehbaren Ecke abgestellt, Objekte fast unmerklich in die Wand eingelassen, Installationen in Form angehäufter Materialien und Gegenstände nur im Rohzustand vorhanden. Beckmann zeichnete in Ateliers, die einem unaufgeräumten Abstellraum glichen, und in solchen, die von einer strengen, systematischen Ordnung bestimmt waren. Häufig aber auch in solchen, die, einigermaßen ordentlich und übersichtlich, sich als recht unauffällige Arbeitsräume erwiesen. Jedes Mal registrierte er aufmerksam und nüchtern die Zufälligkeit des konkreten Lebens und nichts darüber hinaus.

Gern jedoch bleibt der Blick des Zeichners an eigentümlichen Nachbarschaften hängen, dort, wo Besonderes mit Gewöhnlichem, Bedeutendes mit Beiläufigem zusammen stößt. Beim Aufzeichnen solcher Kollisionen gibt er auf subtile Weise seiner leisen Neigung zu Respektlosigkeit und zur Subversion nach.

Das Fragment bleibende Bild des Ateliers als Arbeitsraum

Er selbst betreibt seine Kunst ambulant und hat, wie er im Gespräch erklärt, „nie ein separates Atelier besessen. Heute empfinde ich es so, dass für mich überall dort meine Atelier ist, wo ich gerade zeichne. Meinen jetzigen Arbeitsraum, der als Teil der Wohnung nicht klar von dieser getrennt ist, würde ich nur zögerlich Atelier nennen. Es ist der Raum, in dem der Zeichentisch steht.“

Beckmann hat einmal auf Rolf Dieter Brinkmanns Buch „Rom, Blicke“ hingewiesen und darauf, dass er dort Parallelen zu seiner eigenen Wahrnehmungs- und Darstellungsweise erkannt habe. Wie in den tagebuchartigen Aufzeichnungen Brinkmanns, einer Collage disparater Beobachtungen, die ein facettenreiches und doch Fragment bleibendes Bild der „ewigen Stadt“ entwerfen, kreisen auch Beckmanns grafische Momentaufnahmen um subjektive, visuelle Eindrücke und führen in ein Labyrinth der Wahrnehmung hinein.

 

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