Birgit Rieger

Auf Linie gebracht

Matthias Beckmanns Bleistift-Kabinett: Wie ein Berliner Zeichner die Flick-Collection kopiert

Der Tagesspiegel, 04.01.2004

 

Noch ist nichts los im Hamburger Bahnhof. Der „Schöpfungsmythos“ des Amerikaners Jason Rhoades pufft und quietscht vor sich hin. Niemand drängelt in den Gängen, niemand nervt. Ein junger Bursche im gelben Pullover bestaunt die Eiswürfelmaschine, ein zweiter späht vorsichtig auf die schlampig gestapelten Arbeitstische mit den wüst verstreuten Papieren. Irgendwo hier, am Rande von Rhoades' chaotischer Installation, zwischen dem überfüllten Blumenkübel und den aufgerollten Kabeln, hat Matthias Beckmann gestanden.

Es ist wenig, was Beckmann von anderen Besuchern der Friedrich-Christian- Flick-Collection unterscheidet: In der einen Hand hält er ein Skizzenbuch, in der anderen einen Bleistift – vielleicht eine Stunde lang. Beckmanns Blick hinter der Brille wandert unzählige Male zwischen dem Skizzenblock und Rhoades’ Materialschlacht hin und her. Mit den Augen ertastet der studierte Grafiker Schläuche, Bretter, Scharniere, die bogenförmige Architektur der Halle, den Fußboden, während er Linie für Linie übers Papier zieht.

Zwei Monate hat der in Arnsberg geborene Wahlberliner im Hamburger Bahnhof gearbeitet, oft sieben Stunden am Tag. Hoch konzentriert, schnell, ohne Vorskizzen und ohne den Stift abzusetzen. Jeder Strich, der im Skizzenblock Gestalt gewann, blieb drin. Egal wie missglückt er war – Beckmann korrigiert nicht, lieber fängt er wieder neu an. Beckmann ließ sich treiben, wanderte von McCarthys „Apple Heads“ zu Thomas Schüttes Großen Geistern, zeichnete Duane Hansons Motorradfahrer, ging zur Gartenskulptur von Dieter Roth und dann hinunter zu Wolfgang Tillmans’ Installation „Soldier – The Nineties“. Oft kehrte er wieder und wieder zum selben Kunstwerk zurück, suchte einen anderen Blickwinkel, ein neues Detail. Er liebt merkwürdige Ausschnitte, ungewohnte Perspektiven, Unter- und Anschnitte, Aufsichten. Beckmann sieht die Fülle dieses künstlichen Kosmos’, und er reduziert sie auf eine Linie.

Seine Tour de Force durch die 13000 Quadratmeter große Ausstellung hat etwas Manisches. Es entstand eine zeichnerische Dokumentation der Flick-Collection mit mehr als 90 Blättern. Ein Konvolut, das dem Sammelsurium der Kunstwerke einen look entgegensetzt, eine Sicht, die das Ekelige, Obszöne und das Banale gleichermaßen nivelliert. „Ich zeichne, was mich interessiert“, sagt der 39-jährige Künstler. „Objekte im Raum“ seien das, verrät er schließlich. Wenn die sich nicht bewegen, umso besser.

Vor dem historischen Makel, der der Sammlung anhängt, schreckte Beckmann nicht zurück. Er suchte die Konfrontation. „Niemand wird die Kunst völlig unvoreingenommen betrachten.“ Wegen dieser „doppelten Rezeption“ wollte Beckmann sich die teils gigantischen Werkblöcke der Flick Collection mit dem Bleistift aneignen und auf seine Weise „die Kunst sprechen“ lassen, wie es Flick selbst zu Ausstellungsbeginn gefordert hatte. „Zeichnen ist Nachdenken mit dem Stift“, sagt Beckmann.

Er macht das nicht zum ersten Mal. Wie schon bei zeichnerischen Projekten im Deutschen Bundestag und in der MoMA-Ausstellung, wählte Matthias Beckmann einen Ort, an dem geprotzt wird. Mit seinen nüchternen Zeichnungen will er das Aufschneiderische entlarven, mit dem, was er sieht. Was offenbart sich jenseits der Aura, fragt er und verknappt die Kunstwerke und ihre Umgebung auf beliebig-einfache Linien. Das Muster der Bodenfliesen, der Fleck an der Wand, der Umriss einer Skulptur, ein Bild: In den Zeichnungen Beckmanns wird alles gleich wichtig. Highlights gibt es nicht. „Ich mache keine Postkartenansichten“, lautet sein Kommentar.

Aufgrund dieser strengen, gänzlich unpersönlichen Sicht bezeichnet sich Beckmann zu Recht als Chronist. In seiner spartanischen, zweckmäßg eingerichteten Wohnung in Kreuzberg, die ihm gleichzeitig als Atelier dient, erzählt er mit spröder Begeisterung von der Charlottenburger Abgusssammlung, vom Stipendium in Paris 2001, wo er anfing, das Museum systematisch zu durchstreifen. Es folgten Museumsdokumentationen in Wuppertal, Bonn und Köln, wo er bis vor einem Jahr lebte. Hin und wieder springt er auf, geht zum Regal, holt aus einer Pappschachtel ein kunstvoll, gefaltetes Leporello. In Paris hat er es mit wunderbaren Zeichnungen gefüllt, immer wieder Museumsszenen hintereinander, fast wie im Film. Alles, was auch nur ein bisschen zusätzlich wirkt, ist ihm fremd, gemütlich macht er es sich nirgends. So sind die schlichten, schön gebundenen Kataloge ein bisschen wie er selbst. „Ich mag es zurückhaltend, man soll nur die Zeichnungen sehen, nicht viel Text, nicht viel Design.“

Beim Zeichnen hat Matthias Beckmann am liebsten seine Ruhe. Leute, die ständig über seine Schulter gucken, stören ihn. „Deshalb verwende ich Alben. Ich schlage das Skizzenbuch einfach zu, wenn ich nicht darüber diskutieren will, ob jemand hinter mir stehen darf.“ Und dennoch ist das Betrachten und Betrachtetwerden ein ständiges Thema. Im Bundestag hat er eine Szene eingefangen, in der Besucher durch eine Glasfront Kameraleute beobachten, die ihrerseits mit der Kamera Politiker beobachten. Zuletzt widmete er sich Thomas Struths Aufnahme aus dem Louvre, auf der der Fotograf Museumsbesucher porträtierte. Ein Spiel mit den Ebenen, ein Spiegelkabinett, aus dem das Leben bei Beckmann endgültig gewichen und zur gestanzten Information geworden ist.

Matthias Beckmann ist einem höchst unmodernen Medium verfallen: dem Zeichenstift. Er ist ein Ritter wider die digitale Welt und das hat zumindest einen großen Vorteil: niemand kann seine Betrachtungen per Knopfdruck löschen. Und Ausradieren würde Matthias Beckmann sowieso nie etwas.

 

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