Matthias Beckmann

Reisetagebuch Slowakei

 

10. Juni

Zuzana und Svätopluk holen mich in Wien ab. Wir fahren mit dem Zug nach Bratislava, das ich schon von einem Aufenthalt 2007 kenne, als ich zusammen mit Sväto und Klaus-Martin Treder in der der Kunstakademie angegliederten Galéria Medium ausgestellt habe. Wir sind im Hotel Tatra untergebracht. Das passt.

Sväto und Zuzana haben mich eingeladen, um als Gast des Kulturbahnhofs Banská St a nica Contemporary die Slowakei zu bereisen und unabhängige Kulturprojekte zu dokumentieren. Ich bin gespannt was mich erwartet. Meine einzige Bitte war, dass ich einen klaren Plan bekomme, wann ich wo sein werde und wie ich dort hinkomme. So weit wie möglich werden die beiden mich begleiten.

Am Abend besuchen wir die Bar des KC Dunaj auf der vierten Etage eines verlassenen Kaufhauses. Der Zugang befindet sich auf der Rückseite des Gebäudes. Von der Dachterrasse hat man einen tollen Blick über die Stadt. Es regnet und das Bier schmeckt gut.

 
11. Juni

Nach dem Frühstück in einem Hotelsaal von sozialistisch-monumentaler Eleganz haben wir eine Verabredung im KC Dunaj. Ich fange mit dem Zeichnen an während Zuzana im Café wartet und den Laptop aufgeklappt hat. Gabo Bindics begrüßt uns. Er sieht nicht aus wie man sich einen smarten Kulturagenten vorstellt. Gabo führt mich durch die Räume. Es gibt eine Galerie, einen Theater- und Musikraum, Büros, einen kleinen Laden mit ausgesuchten Designobjekten und Büchern. Auf einer anderen Etage arbeiten in einem großen Raum junge Kreative, über ihre Rechner gebeugt oder telefonierend, an diversen Projekten. Das könnte auch Berlin sein. Zeichnend wandere ich von einem Raum zum anderen.

Sväto kommt später dazu und wir fahren gemeinsam zum Cvernovka Atelierhaus in einer alten Zwirnfabrik. An den Mauern fallen mir große Linolschnitte auf - Street Art, die eine akademische Schulung verrät. Wir wollen den Architekten treffen, der für den Umbau der von Walter Behrens erbauten alten Synagoge in Žilina zu einem Ausstellungszentrum verantwortlich ist. Da er noch nicht da ist, sehen wir uns in anderen Ateliers um. Gut, dass Sväto so viele Leute kennt. Besonders gefällt es mir im Atelier von Boris Meluš, einem Grafikdesigner, der inmitten einer ausgeklügelten Landschaft von Einbauten, Treppen, Ebenen und an Stricken unter der Decke befestigtem Mobiliar wohnt und arbeitet. Bücher stapeln sich. Im Eingangsbereich steht die Theke eines Freundes, der Fahrräder repariert. Eine junge Dame lümmelt sich auf der Couch und schaut in ihren Rechner. Auf dem Tisch steht Duchamps Urinoir. Hier gefällt es mir, denn es gibt genug zu zeichnen und es ist nicht zu aufgeräumt. Später habe ich dann doch die Gelegenheit, mit dem Architekten zu sprechen, der mir sein Architekturmodell erklärt.

Am Abend bin ich mit Sväto und Zuzana im YMCA-Gebäude, wo wir in der Bar des A4 Projektes einen Drink zu uns nehmen. Beim Anblick des großen Schriftzugs an der Gebäudefront muss ich an den Song der Village People denken, die auf den Plattencovern als Indianer, Cowboys und muskelbepackte Straßenarbeiter auf abenteuerlichen Gefährten posierten. Hier spricht man das nicht amerikanisch aus, sondern sagt "Imka".

12. Juni

Am Vormittag habe ich einen Termin mit Gabo, um die Alte Markthalle zu besichtigen, die umgebaut werden soll. Ich bin erstaunt über die Großbaustellen der unabhängigen Kulturprojekte, die Energie und den Optimismus, dass alles klappt und sich auch finanzieren lässt. Sväto und Zuzana hatten mir schon gesagt, dass ich jetzt kommen müsse da gerade sehr viel geschehe und im Aufbruch sei. Ich nutze die Zeit vor dem vereinbarten Treffen, um das Gebäude von außen zu zeichnen. Ein überdimensionierter Hase aus Rasen und Blumen steht vor dem Gebäude wie eine Parodie auf Jeff Koons. Ich mache zwei Zeichnungen und warte in der Sonne. Zuzana kommt und bald darauf auch Gabo, gefolgt von weiteren Interessenten. Er führt mich bis weit auf das Dach. Von einer Galerie soll man einen besonderen Blick auf die Halle haben. Ich ziehe zum Zeichnen einen weniger luftigen Platz vor. Noch hängen dunkle Stoffbahnen, die den Hauptraum von den umliegenden Bereichen trennen. Das wird einmal ein großzügiger Ausstellungsraum, eher geeignet für Skulpturen, raumfüllende Installationen oder Videoprojektionen als für übliche Malereiformate.

Am Nachmittag besuche ich das "YMCA". Ľubomír Burgr, der Initiator des A4 Space for Contemporary Culture hatte uns am Abend zuvor gesagt, dass heute Proben für eine Theaterprojekt mit behinderten und nichtbehinderten Schauspielern sind. Ich setze mich auf die Holztribüne im Theatersaal. Es sind lediglich Beleuchtungs- und Technikproben und so zeichne ich die Regisseurin, die auf der Bühne agiert. In der Bar treffe ich Lubo Burger, der mir ein Getränk anbietet und mich freundlich einlädt, doch am Abend zur Vorstellung zu kommen. Ich bin pünktlich, suche einen günstigen Sitzplatz. Es ist naturgemäß meist so dunkel im Saal, dass ich schon eine Grubenlampe gebraucht hätte um das Zeichenblatt zu sehen. Ich verstehe die Sprache nicht, aber das recht kurze Stück mit einem Rapper, Darstellern mit Signalfarbkleidungsstücken und einem Laiendarsteller mit großer Brille, unglaublicher Gelassenheit und einem Humor, der sich auch ohne Slowakisch-Kenntnisse überträgt, gefällt mir gut. Danach gibt es eine Vorstellung der Darsteller, des Projektes und eine Diskussion. Ich komme doch noch ein wenig zum Zeichnen.

Sväto hatte mir am Tag zuvor "Magazine X", eine neue slowakische Zeitschrift zur zeitgenössischen Zeichnung gezeigt. Kein reguläres Format sondern eine Mappe mit großem X, darin diverse Hefte unterschiedlichen Formats, einzelne Drucke nach Zeichnungen, sogar eine Originalzeichnung. Slavka Ondrusova von Časopis X hat mit mir ein Treffen nach der Theateraufführung vereinbart, um mich zu meiner Zeichenkunst und dem Stand der Zeichnung in Deutschland zu befragen. Die Zeitschrift soll es bald auch in einer englischen Ausgabe geben.

13. Juni

Ich zeichne am Vormittag das Partisanendenkmal gegenüber dem ehemaligen Kaufhaus Dunaj und das Gebäude des Nationalen Kulturzentrums Dom umenia. Die Sitzfläche meines faltbaren Anglerhockers, der mich so viele Jahre begleitet hat, droht endgültig zu reißen und so kaufe ich mir einen neuen, superleichten mit dem Namen "Primus". Am Nachmittag fahren wir nach Banská Stiavnica. Sväto und Zuzana betreiben dort den Kulturbahnhof Banská St a nica Contemporary. Sie verkaufen Zugtickets am gleichen Schalter, an dem man auch eine CD von Milan Adamčiak, Kunstpostkarten, Künstlereditionen und Kataloge erwerben kann. In der Bahnhofshalle hängt ein riesiges Gemälde von Erik Sille, zur Zeit das größte Leinwandbild der Slowakei. An den Seitenwänden weit über Kopfhöhe Schwarz-Weiß-Fotos, die freudige tschechoslowakische Arbeiter und Kinder zeigen. Eine Marmortafel am Eingang weist darauf hin, dass Freiwillige aus Albanien, Bulgarien, Polen, Frankreich, Österreich und Norwegen die Bahnstecke 1948 gebaut haben. Das Kassenhäuschen ist das Büro und die Zentrale von Basnka St a nica Contemporary. Im Atelier mit der Druckerpresse arbeitet gerade Jakub Czyszczoń, der polnische Gastkünstler, der bald wegen einer Ausstellung nach Warschau aufbrechen wird und die letzten Drucke begutachtet. Wie er wohne auch ich im kleinen Gästehaus. Vor der Überdachung, mit Blick auf die Gleise, stehen alte, sorgfältig gepflegte Rosensträucher, die bald blühen werden.

14. Juni

Heute reise ich nicht und kann mich im Bahnhof umsehen und ein wenig die Stadt erkunden. Die Supermarktkette Billa ist mir schon aus Österreich vertraut. Dies scheint das wahre Zentrum des geschichtsträchtigen Ortes zu sein und hier kaufe ich das Nötigste für die nächsten Tage ein.

15. Juni

Nach einem ruhigen Tag in Banská Stiavnica fahren Sväto und ich in das nahe Banská Bystrica. Dort soll in einer alten Bastei ein Literaturzentrum entstehen. Auf dem Weg vom Bahnhof machen wir einen Umweg, um das surreale Haus eines Bühnenbildners zu sehen. Der Putz ist dunkelrosa, die Mauern scheinen zu fließen und werden von einem gotischen Stüzpfeiler gehalten, ein metallener Vogel stürzt sich vom Dach. Salvador Dalí persönlich hat der Fassade einen kunstvollen Riss versetzt, in einem Fenster schwimmen Fische in einem Aquarium. Ich mache ein Foto - wie auch später von dem bronzenen Halbfigurdenkmal von Johannes Paul II., der mir in der Slowakei immer wieder begegnen wird. Wir suchen die Literaturbastei Bašta pri Lazovnej bráne. Sväto entdeckt einen alten Turm. Doch wo ist der Eingang? Wir klingeln bei einem städtischen Kulturzentrum. Eine Dame öffnet die Tür einen Spalt und versichert, dass sie davon nichts weiß. Sväto telefoniert mobil und wir merken, dass sich der Eingang gleich im Haus nebenan befindet. Zuzana Majlingova führt uns in Begleitung einer Dame vom Amt für Stadtverschönerung, wie mir Sväto ihren Aufgabenbereich übersetzt, durch die alten Gemäuer. Phänomenal, eine toller Ort zum Zeichnen. Ein verwunschener Innenhof mit überwachsenem altem Gerümpel, Plakate mit Popsternchen und Hinweisen auf vergangene Veranstaltungen in einem Raum, wacklige Tische, trübe Fenster, dicke Mauern -  ein wehrhaftes altes Gebäude, das bald einen Veranstaltungsraum, eine Gästewohnung, Bücherregale, eine Empfangstheke erhalten soll. Ich platziere mich so, dass ich von einer Galerie aus den Innenhof zeichnen kann. Bald schon kommen immer mehr freiwillige Helfer, die die ganze Pracht auf- und wegräumen. Chaos und Verfall, die das Herz des Zeichners erfreuen, sind bald beseitigt und ich stehe im Weg als immer mehr Mobiliar hinuntergeschleppt wird. Ich klappe meinen Block zu und will gleich verschwinden, doch Sväto kann mich überreden, es doch noch einmal zu versuchen. Immerhin, die alten Plakate bleiben hängen und man lässt mich in Ruhe im Turmzimmer zeichnen. Auch der Dachboden ist hochromantisch. Sväto entdeckt alte Nationalfahnen, das Licht blitzt durch die Dachziegeln, ein alter Stuhl blieb von einer Aufführung zurück. Kein Bühnenbildner hätte die Patina kunstvoller anbringen können.

Der Hauptplatz der Stadt ist prächtig und der Brunnen sowie die alten Häuser ringsum sind gut erhalten und liebevoll instandgesetzt. Die Postkartenansicht wird nur durch den Anblick eines enormen Hochhauses gestört, das erst kürzlich entstanden ist damit sich hier nicht zu viel Behaglichkeit breit macht. Wir essen zu Mittag in einem Gasthaus, das im Hinterhof Tische aufgestellt hat.

Um eins haben wir eine Verabredung im Culture Center Záhrada (slowakisch: Garten). Milan Zvada begrüßt uns. Das engagierte Theaterprojekt versucht Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen zu bringen, die gemeinsam auf der Bühne stehen. Am frühen Abend soll im Garten hinter dem länglichen Backsteinbau eine Plastik enthüllt werden zur Erinnerung an einen freiheitsliebenden Intellektuellen, der sowohl  in den Zeiten des Sozialismus wie auch danach unbeirrt seine Ideen vertrat und sich politisch engagierte. Der Bildhauer zeigt uns den Marmortisch, auf dem man durch Verschieben steinerner Quadratfelder allmählich ein Zitat lesen kann. Die Atmosphäre ist freundlich. Ein Airedale Terrier will spielen und apportiert einen speicheldurchnässten Tennisball, den er mir immer wieder vor die Füße legt. Hier lässt es sich gut aushalten. Ein guter Geist ist zu spüren. Musiker proben für die Festveranstaltung am Abend.

16. Juni

Heute ist der Tag des Herrn, den ich in Banská Stiavnica verbringe. Ich ziehe früh los, um den Kalvarienberg zu besteigen. Ein Jesuitenpater war der Initiator dieser barocken Anlage, die in den Jahren 1744 bis 1751 errichtet wurde. Lediglich eine Reisegruppe und wenige vereinzelte Besucher begegnen mir. Ich gehe den steilen Berg hinauf, schaue mir die untere und die mittlere Kirche und die vierundzwanzig Stationen an, die neben den traditionellen Kreuzwegstationen noch weitere Episoden aus dem Leben Christi darstellen. Neben den farbig gefassten originalen Halbreliefs gibt es in einigen Häuschen fotografische Reproduktionen der Reliefs, die sich nun in einem örtlichen Museum befinden. Ich zeichne zwei Details. Vor allem ein Wasserspeier, der aus einer Fußwaschung Christi herausragt, weckt mein Interesse. Die biblische Geschichte wird greifbar und dringt plastisch-praktisch dem Betrachter entgegen. Auf der Bergspitze steht die Hauptkirche. Von hier aus habe ich einen weiten Blick über die Landschaft. Ich versuche einige Gebäude des Ortes wieder zu erkennen und die Lage des Bahnhofs zu identifizieren. Jakub ist bereits in Warschau und eine Gruppe intellektueller Hip-Hopper ist kurze Zeit zu Gast im Bahnhof um ein Video zu drehen. Der Ort eignet sich bestens dazu.

17. Juni

Sväto muss heute nach Brno und wir reisen gemeinsam bis sich unsere Wege trennen, da ich diese Woche in den Osten der Slowakei fahre, erst nach Žilina und dann nach Košice. Marek Adamov holt mich mit dem Auto am Bahnhof in Žilina ab. Zunächst geht es zu seinem Haus. Ich werde die nächsten Tage im Souterrain des Hauses wohnen, wo Marek behagliche Zimmer für Gäste des von ihm geleiteten Kulturprojektes Stanica Žilina-Záriečie eingerichtet hat. So viel persönliches Engagement habe ich in Deutschland noch nicht erlebt. Das funktionalistische Haus ist in einer Wohngegend gelegen, die für die Ansiedlung Intellektueller in den dreißiger Jahren angelegt wurde. Mich irritiert die graue, unregelmäßige Oberfläche des eigentlich kubisch-strengen Gebäudes, die wie ein unregelmäßig gekneteter Teig aussieht. Marek hat das Haus mit einer Wärmedämmung versehen, die nicht kaschiert sondern bewusst betont wird. Erwin Wurm trifft auf Bauhaus. Wir gehen durch die Siedlung, über einen Markt und den mittelalterlichen Hauptplatz mit seinen Arkaden zur nahe gelegenen Synagoge, die Peter Behrens 1928 errichtet hat. Žilina hatte vor dem zweiten Weltkrieg und der Verschleppung und Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten eine große jüdische Gemeinde. Nach dem Krieg wurde das Gebäude unterschiedlich genutzt, zuletzt als Kino. Nun soll die denkmalgeschützte Synagoge restauriert und nach der Wiederherstellung des ursprünglichen Raumkonzeptes im Inneren und dem Einbau eines zentralen Kubus mit einer umlaufender Rampe, die zum oberen Stockwerk führt, als Ausstellungsraum genutzt werden. Die Arbeiter, die mit bloßem Oberkörper Schubkarren schieben und die Bühnenaufbauten einer gerade vergangenen  Aufführung wegschleppen, sind allesamt Mitarbeiter und Kuratoren von Stanica Žilina-Záriečie. In der Slowakei sind Hand- und Kopfarbeit noch vereint. Und anders geht es auch nicht, als dass jeder mit anpackt und alle alles machen. Das Innere der Synagoge ist rauh und staubig. Spätere Einbauten wurden herausgerissen; eine eiserne Wendeltreppe liegt im Bauschutt; merkwürdig asiatisch wirken die Ballons und Blumentöpfe, die an langen Fäden von der hohen Decke baumeln, Überreste einer Veranstaltung der letzten Woche. Von der Synagoge gehe ich zur nahe gelegenen Stanica. Trotz präziser Wegbeschreibung verlaufe ich mich und finde dann doch den Weg. Marek hatte gemeint, dass jemand, der so präzise Räume zeichnet, auch ein ausgeprägtes Gefühl für Raum und Lage haben müsse. Vor dem Bahngebäude stehen mehrere Container übereinander getürmt. Ich gehe durch das Bahnhofsgebäude hindurch in den Garten und treffe dort Marek. Kinder spielen und junge Mütter mit ihren Sprösslingen lagern im Schatten der Bäume. Unter der Autobahnbrücke steht ein Gebäude, dessen Außenwand aus aufeinander gestapelten Bierkästen geformt ist. Die Unterseite der Brücke bildet die Decke des Theatersaals. Der gesamte Bau, der nur in den warmen Sommermonaten genutzt wird, hat etwa ein Zehntel dessen gekostet, was für die Renovierung und Umgestaltung des Bahnhofsgebäudes nötig war. Am Nachmittag probt hier eine Gruppe von Studenten und ich zeichne mal im Hellen und mal im Dunklen einzelne Darsteller und ihre Posen. Theateraufführungen, bei denen man die Sprache nicht versteht, sind auch nicht schlechter als andere.

18. Juni

Ich treibe mich in der Stadt herum, halte eine Ansicht der Synagoge fest und entdecke hinter der gotischen Kirche der heiligen Dreifaltigkeit den tiefer gelegenen zweiten großen Platz der Stadt. Ein postmoderner Gestalter hat ein großzügiges, geschwungenes Brunnenbecken mit wulstartigen Gebilden angelegt. Wasser springt hier gerade nicht. Die Eingangssäulen zum Platz hatten einmal kunstvolle Keramikfliesen und einen plastischen Aufsatz, der mit den Jahren zum größten Teil herabgefallen ist. Ein sozialistisches Heldendenkmal steht in einer nahen Grünanlage und der Weg zum Bahnhof führt an billigen Geschäften vorbei. Meine Orientierung in der Stadt wächst zunehmend. Am Nachmittag will mich Robo Blaško zu Lida Mlichovás Buchbindewerkstatt Knihársku dielňu begleiten, und so gehe ich zum Kulturbahnhof Stanica Žilina-Záriečie, wo wir uns verabredet haben. In Žilina scheint das Zentrum der slowakischen Kulturbauarbeiten zu liegen. Ein riesiger Kran steht hinter dem Bahnhof und hebt einen Container über das Gebäude. Er soll neben einen schon unter der Brücke stehenden ersten Container gestellt werden und Sanitäranlagen und die Garderoben der Schauspieler beherbergen. Die Wasseranschlüsse sind schon gelegt und der Boden geglättet. Es ist unglaublich eng zwischen Bahnhof und Autobahnbrücke. Stromleitungen sind im Weg und nur durch die Seelenruhe und Präzision der beiden Arbeiter einer Spezialfirma kann der Container langsam und sicher an die geplante Stelle bugsiert werden.

Von der Baustelle eilen wir zu einem Termin bei der Buchbinderin, die in den kühlen Gewölben eines mittelalterlichen Gebäudes nahe der gotischen Kirche mit zwei Mitarbeiterinnen in Handarbeit sorgfältige Kleinauflagen und Unikate bindet. Nach einem langen und interessanten Gespräch, in dem sie uns wertvolle und aufwendig gestaltete Bücher zeigt, stellt sich heraus, dass hier in 15 Minuten der Arbeitstag vorbei ist, der früh begonnen hat. Schade, ich hätte gerne die Damen bei der Arbeit gezeichnet. So bleibe ich in den menschenleeren Räumen und zeichne die vielen Details.

 
19. Juni

Früh am Morgen gehe ich zum Bahnhof und fahre zu meiner östlichsten Destination, Košice. Vom Speisewagen aus sehe ich das Gebirge der hohen Tatra vorübergleiten. Bahnfahrten in der Slowakei sind überaus günstig und man könnte sich auch einfach zum Vergnügen in einen Zug setzen, aus dem Fenster schauen und das gute Programm genießen. Der Bildhauer und Konzeptkünstler Tomáš Džadoň holt mich am Bahnhof ab. Zuzana und Sväto haben alles bestens organisiert und Tomáš ist ein perfekter Stadtführer und Betreuer, der mir die Kathedrale und die in einer Seitengasse versteckte historische Synagoge zeigt. Er spricht über Košice, die Kulturhauptstadt 2013 und die Kunstprojekte und Events, die man sich dazu hat einfallen lassen. Partizipation ist immer angesagt und so soll in einer Aktion Wasser symbolisch zurück in die Stadt gebracht werden, indem eine gigantische Welle über die Displays der Smartphones der Besucher eines angekündigten Spektakels flutet. Das offizielle Kulturhauptstadtmotto ist "Sorry, we are open" und passenderweise ist mitten im Kulturjahr die kommunale Kunsthalle wegen Restaurierung geschlossen, die Kulturfabrik Tabačka wird gerade renoviert und der Bahnhof ist eine Baustelle.

Tomáš hat über seine Galeristin in Bratislava eine Verabredung mit Viktoria, einer Journalistin der Süddeutschen Zeitung, die gerade die Slowakei bereist. Wir essen zusammen in einem Straßencafé. Danach geht es zur Tabačka Kulturfabrik. Peter Radkoff begrüßt uns und führt durch das riesige, alte Gebäude. Der Betrieb läuft in vermindertem Maße weiter mit Café, Konzerten und Veranstaltungen, auch wenn gerade fast die gesamte Tabakfabrik renoviert und umgebaut wird. Im Hof stehen einige Tische und wir treffen Kristina Forbat, eine aus Košice stammende Schriftstellerin, die mit ihren Eltern nach Deutschland emigrierte und hier zur Zeit als Stadtschreiberin eine Gästewohnung hat. In einem Fabrikraum im Erdgeschoss stehen alte Möbel und allerlei technisches Gerät. Die Wände wurden von Street-Art-Künstlern bemalt, die zu Gast waren. Im hinteren Bereich arbeitet ein Bildhauer mit zwei Assistenten an mehreren Schaufensterfiguren, die so umgestaltet werden, dass sie nebeneinander aufgestellt die einzelnen Bewegungsphasen eines Schwimmer darstellen, der ins Wasser springt. Auch ein Beitrag zur Kulturhauptstadt. Wieder bin ich auf einer typischen slowakischen Kulturbaustelle und so finde ich schnell geeignete Motive.

Ich zeichne zügig und nehme dann ein kühles Getränk mit Tomáš, der noch im Hof sitzt. Am Abend soll es hier eine große Party mit einer amerikanischen DJane geben. Ich gehe in das gleich gegenüber liegende Hotel Jasmin, das noch aus den Zeiten des Sozialismus stammt und nun ein völlig neues goldschimmerndes Kleid bekommen hat und mache mich frisch. Dann ziehe ich in der Sommerhitze in die Stadt, schaue mich um, esse etwas, trinke ein Glas Rotwein. Wieder zurück im Hotel bin ich geschafft von der Hitze, der Reise, dem Zeichnen und dem Rotwein. Ich lege mich aufs Bett, nicke ein, wache spät wieder auf und antworte auf die SMS von Tomáš, dass ich keine Energie mehr habe für die Party. Am nächsten Tag heißt es, drei Mal sei die Polizei, die hier sehr verständnisvoll sein muss, dort gewesen, da sich Nachbarn wegen Ruhestörung beschwert hatten. Ich habe nichts davon mitbekommen.

20. Juni

Košice ist schön und alle Wege führen dorthin, wo die am östlichsten gelegene gotische Kathedrale steht, wie mir Tomáš sagte. Am Nachmittag fährt er Viktoria und mich zum Atelier von Jan Mathe. In den 80er-Jahren hatte Jan Mathe mit seiner Frau das klare, sorgfältig gestaltete Haus gebaut. Letztes Jahr ist er gestorben. Eva öffnet uns, eine freundliche grauhaarige Dame voller Energie. Sie zeigt uns die Wohnung und das wunderbare hohe Atelier mit Nordlicht, in dem Gipsmodelle und Skulpturen aus Holz, Stein und Bronze aus allen Schaffensphasen stehen. Es ist ein wenig so, als hätte der Künstler den Raum gerade verlassen. Seine Arbeitsschuhe stehen unter einem Stuhl, alte Werkzeuge liegen neben dem Schleifstein. Eva liebt ihren Mann und er hat vor zwei Tagen noch mit ihr gesprochen, sagt sie. Sie erzählt von Treffen mit Freunden und jüngeren Künstlerkollegen und davon, dass sie Ausstellungen mit den Werken von Jan plant. Sie hat einen Imbiss vorbereitet. Danach gibt es Kaffee und einen gehaltvollen Kuchen, den sie mit Schlagsahne krönt. Tomáš berichtet von seinem Projekt für Košice, das Zuzana organisatorisch und kuratorisch mitbetreut. Er will ein traditionelles Holzhaus aus der hohen Tatra auf das Flachdach eines Plattenbauhochhauses stellen und so zwei Aspekte verbinden, die für diese Landschaft prägend sind. Ein Großteil der bisherigen Arbeit bestand darin, alle Bewohner des Hauses von dem Projekt zu überzeugen, wobei ihm vor allem der begeisterte Hausmeister behilflich war. Die praktische Umsetzung ist wegen des Transports und statischer Probleme nicht einfach. Aber nun ist alles in die Wege geleitet.

Wein und Schnaps muss ich ablehnen, da ich zum Zeichnen einen klaren Kopf und eine sichere Hand brauche. Ich gehe alleine in das Atelier zurück und zeichne. Jan Mathe ist ein figürlicher Künstler. Auch in seinen abstrakten Werken ist der Mensch gegenwärtig und eine geistige, vielleicht religiöse Dimension spürbar. Eva gefallen meine Zeichnungen vom Atelier und ich denke, dass das hier ein wichtiger Ort ist, eine Brücke zwischen den Ideen der älteren Generation und der aktuellen Aufbruchsstimmung.

Am Abend ist ein Freiluftkonzert in einem Innenhof nahe der Kathedrale, von einem regen Kneipenwirt organisiert, der einmal der Punkszene angehörte. Bevor der angekündigte amerikanische Folksänger kommt, unterhält ein langhaariger Barde mit Gitarre das Publikum, das mit Bier die Hitze bekämpft. Tomáš erklärt mir, über welch ungewöhnliche Alltagsgegenstände er singt und in der Tat merkt man, dass der Sänger eine Botschaft hat und sich wenig aus dem allgemeinen Publikumsgeschmack macht. Eine sympathische Erscheinung. Ein Mann mit langen, weißen, wehenden Haaren fährt auf einem orangefarbenen Klapprad in den Hof. Die Lenkstange im Bonanzastil wird von einem Plüschtier dort gekrönt, wo auf einer Edelkarosse die Gallionsfigur sitzt. Es ist Peter Kalmus. Sväto hatte mir einen Katalog seiner Ausstellung im Andy Warhol Museum in Medzilaborce, nahe der polnischen Grenze, gezeigt. Ich hatte überlegt, ob ich noch dieses höchst merkwürdige Museum besuchen soll, das Warhols Verwandte errichten haben nachdem die Familie zunächst wenig mit den Werken des blonden Bleichgesichts hatte anfangen können.

21. Juni

Am Freitag fahre ich zurück nach Banská Stiavnica.

22. Juni

Schon am letzten Wochenende hatten Sväto und ich versucht Milan Adamciak zu besuchen. Wir waren mit dem Zug von unserem Kulturbahnhof zur nahe gelegenen Station Banská Belá zastávka gefahren und hatten nach einigem Suchen einen Weg durch hohes Gras und einen Abhang hinab, über ein Privatgrundstück, an einem angeleinten Bullen vorbei, über einen Bach und die Landstraße entlang zu dem im Grünen versteckten Häuschen gefunden. Dies ist auch der Weg, den internationale Kuratoren nehmen, wenn sie zu dem Künstler gelangen wollen, der in den 60er-Jahren konkrete Poesie schrieb, Festivals organisierte, mit John Cage und Joseph Beuys korrespondierte und um den es dann erzwungenermaßen stiller wurde nach dem Einmarsch der Sowjets und dem Ende des Prager Frühlings. Milan Adamciak hat seine kompositorische Arbeit stets weiter geführt und grafisch eigenwillige Partituren für Profimusiker und Laien geschrieben. Als wir zum ersten Mal dort waren, hatte Sväto einen Zettel unter der Tür durchgeschoben. In den zwei oder drei Dorfkneipen hatten wir nach ihm gefragt, doch man meinte, dass er wohl gerade wieder auf Reisen sei.

Nun haben wir eine Verabredung mit ihm, und Michal, einer der beiden Musiker und Komponisten, die gerade Kurzzeitgäste in Banska St a nica Contemporay sind, um eine gemeinsame Video-Oper mit Livemusik zu erstellen, fährt uns mit seinem Wagen dorthin. Milan Adamciak kocht einen starken türkischen Kaffee für uns. Er spricht deutsch, englisch und slowakisch und findet, dass die meisten Leute seiner Generation ihm viel zu alt sind und er mehr Interesse an den Jungen hat. Er war letzte Woche in Tschechien und ist überhaupt viel unterwegs in Europa, Amerika und Japan wegen seiner musikalischen Projekte und Aktionen. Er wird vor allem eingeladen, um an Symposien und Ausstellungen zur Musik und Kunst der 60er und 70er-Jahre teilzunehmen.

Hier hat er es sich so eingerichtet wie es für ihn passt. Er ist ein freier Mensch und hat einen guten Humor. Dagegen sehen wir ganz schön alt aus. Er kramt eine Mappe mit Fotokopien seiner Noten und Partituren hervor, die wunderschön anzusehen sind und Anweisungen über Bewegungen im Raum, Aktionen und musikalische Strukturen geben, die von den Ausführenden selbstständig interpretiert werden. Mal ist es linear zu lesen, dann wieder entwickelt sich alles aus einem Zentrum heraus oder es sind parallele Handlungen dargestellt. Klassische Musiker haben damit die meisten Schwierigkeiten, sagt er, weil sie immer genau gesagt bekommen wollen, was sie zu tun haben. Das ist nicht Milan Adamciaks Sache.

23. Juni

Mein zweiter Sonntag in Banská Stiavnica. Ich zeichne das Partisanendenkmal vor dem Bahnhof, den Billa-Supermarkt, gehe weiter in Richtung Altstadt, zeichne das Kruzifix vor dem berühmten Glanzenberg Stollen, ein weiteres sozialistisches Denkmal, eine barocke Figur des heiligen Nepomuk mit lateinischer Inschrift, Helden und Heilige. In der neuen Burg gibt es eine Dauerausstellung zur Stadtgeschichte mit einem Schwerpunkt auf der Zeit der erfolgreich abgewehrten Belagerung durch die Türken. Ein Modell der Burg steht auch vor dem Küchenfenster der Gästewohnung des Bahnhofs, mitten in einem Blumenbeet.

Miro Tóth und Michal Palko haben am Dienstagabend die Aufführung ihrer Oper in der Bahnhofshalle. Michals Zymbal steht dort schon seit einiger Zeit. Der Bahnhof ist sein Musikzimmer. Das Instrument erinnert an ein Hackbrett und wird mit Klöppeln gespielt. Leider bin ich immer dann, wenn er spielt, woanders, schon müde oder gerade ohne Zeichenblock. So bleibt dieses Bild allein in meinem Kopf. Miro spielt Saxophon und andere Blasinstrumente, doch zurzeit sitzt er meist am Rechner und schneidet die Videosequenzen für die Oper. In der Küche zeigt mir Michal den Trailer. Die beiden haben mitsamt ihren Instrumenten alte und neue Ruinen in Bansca Stiacnica aufgesucht, dort musiziert und gedreht. Mit Einwohnern haben sie Interviews geführt. Es ist eine Oper und doch auch wieder keine Oper im klassischen Sinn. Aus Miros Zimmer höre ich immer wieder Musikschnipsel und Versatzstücke und bin gespannt wie das alles zusammen geht.

24. Juni

Kurz vor acht Uhr bin ich an der Busstation am Billa-Supermarkt. Ich fahre nach Zvolen, wo mich Andrej Poliak abholen soll. Zuzana hat mir einen aktualisierten Plan mit allen Stationen, Namen und Telefonnummern gemailt. Das ist gut und ohne ihre hervorragende Organisation wäre ich verloren. Früher war das Periférne Centrum in einem alten Busbahnhof in Dubravica, einem kleinen Dorf in der Nähe von Banská Bystrica. Seit einigen Monaten ist das Projekt nun in einem alten Bauernhaus im selben Ort angesiedelt. Es ist der Hof des Großvaters von Igor Babiak, der zum Kreis der Initiatoren gehört. Alle Beteiligten sind Bildende Künstler und der Schwerpunkt liegt auf landschaftsbezogenen Arbeiten, Skulpturen, Installationen. In der gemeinsamen Küche gibt es Kaffee. Juliana Mrvová, eine Malerin aus Bratislava, ist gerade für ein Paar Tage zu Gast und hat selbst gebackenen Kuchen mitgebracht. Sie wird für eine Außenwand an einem benachbarten Gebäude ein Leinwandbild malen mit Naturfarben aus Pflanzen, Erde und Steinen, die sie vor Ort findet. Auf kleinen Leinwänden und Papieren probiert sie Farben aus, die sie der Sonne und dem Wetter aussetzen will, um zu sehen wie sie sich verändern.

Andrej führt mich über das Gelände. Schwalben nisten unter den Balken eines Scheunendurchgangs. In den ehemaligen Tierställen liegen alte Dachziegel, Holzbalken, Stühle, Schränke, alte Fenster und Plastiksäcke. Hinter dem Haus der ausgedehnte Garten mit Plumpsklo, Gemüsebeeten und einigen Bienenstöcken. Andrej öffnet die rückseitige Holzabdeckung und ich blicke in die geschäftige Wabenwelt der Bienen. Zuletzt habe ich das im Bienenhaus meines Vaters gesehen, der die Imkerei vor mehr als zwanzig Jahren aufgegeben hat als ein böser Milbenbefall in Deutschland ausbrach. Einen Gang zu den Skulpturen in der Landschaft verschiebe ich, um zunächst im Bauernhaus und im Garten zu zeichnen. Als ich im Schuppen sitze, kommt ein großer, schwarzer, neugieriger Hund angelaufen. Dies ist der idyllischste Ort, den ich bisher auf meiner Reise besucht habe. Sväto und Zuzana bestätigen das als sie die Fotos sehen, die Andrej ihnen zumailt. Die beiden waren noch nicht hier und so bin ich wirklich ein Pionier. Das Wetter wird immer drückender und schließlich fällt ein warmer, kräftiger Sommerregen. Es wird nichts daraus, auch die künstlerischen Landschaftsinterventionen zu zeichnen. 

25. Juni

Der letzte Tag in Banská Stiavnica. Die Rosen blühen mittlerweile prächtig hinter dem Bahnhof. Ich bin früh wach, ordne meine Sachen, werfe angefangene Zeichnungen weg, die ich frühzeitig aufgegeben hatte weil irgendetwas nicht stimmte und packe meinen Koffer. Der Tag soll ruhig werden.

Ich gehe noch einmal in die Altstadt. Man hatte mir gesagt, dass heute die Gemäldegalerie geöffnet sei. Ein Schild weist darauf hin, dass der Schlüssel drei Häuser weiter unten zu erhalten sei. Dort erfahre ich an der Theke, dass in fünf Minuten geöffnet werde. Als ich anfange, die Figur eines Heiligen mit den gekreuzten Hämmern der Bergleute auf der Kopfbedeckung zu zeichnen, kommt eine Museumsangestellte, die deutsch spricht. Sie fragt warum ich die Figur zeichne und ich antworte wahrheitsgemäß, dass mich vor allem der Bezug zur Bergbauregion interessiert. Denn hier wurde viele Jahrhundert Gold und Silber gefördert und die ganze Stadt ist unterhöhlt von Minen.

Sie meint ich habe keine Erlaubnis hier zu zeichnen und es bestehe die Gefahr, dass man nach meiner Zeichnung eine Replik der Skulptur erstellen oder Informationen für einen eventuell geplanten Einbruch sammeln könne. Das sei natürlich nicht gegen mich persönlich gerichtet. Dass sich so etwas eher mit einem schnellen Handyfoto erledigen lasse als mit einer mühsamen, noch dazu linearen Bleistiftzeichnung, überzeugt sie auch nicht. So bitte ich darum, diese Zeichnung fertig stellen zu dürfen, was mir schließlich erlaubt wird. Danach führt mich eine Mitarbeiterin durch das ganze Haus und schaltet das Licht aus, wenn ich einen Raum verlasse.

Am Nachmittag zeichne ich Miro bei der Probe in der Bahnhofshalle. Sväto schneidet Rosen für den Blumenschmuck des Getränkebuffets. Ein kleines lokales Filmteam ist da, um ein Interview aufzuzeichnen, das Zuzana mit Miro und Michal führt. Gegen halb acht finden sich langsam immer mehr Gäste ein. Die Oper gefällt mir gut. Auf die Wand gegenüber dem Großgemälde von Eric Sille werden parallel zwei Videos projiziert. Auf dem linken kleinen Bild jeweils die beiden Musiker, ruhig sitzend an wechselnden Orten, rechts eine riesige Projektion mit dem Kopf eines Mannes mit Dreitagebart und Sonnenbrille, der erzählt und singt. Immer wieder die Einblendung von Zwischentiteln, die auf klassische Opernbegriffe verweisen. Miro und Michal spielen live dazu. Mit dem bärtigen Mann spreche ich nach der Veranstaltung. Er saß vor mir, trägt heute keine Sonnenbrille und ist Dramaturg und Schauspieler am Theater in Bratislava. Alle gehen später noch ins Art Café zum Feiern und Trinken. Ich verzichte darauf, da am nächsten Morgen schon um zehn vor sechs ein Taxi kommt, das zuvor Sväto in Ilija abgeholt hat, wo er mit Zuzana wohnt, und uns zum nächsten Busbahnhof bringen soll. Es ist nicht so einfach von hier nach Bratislava zu kommen und morgen ist ein anstrengender Tag.

26. Juni

Es ist zehn vor sechs, ich bin abreisebereit, doch das Taxi kommt nicht. Ich rufe Sväto an. Er war wieder eingenickt da es gestern spät geworden ist. So verzögert sich die Reise ein wenig, doch wir werden noch rechtzeitig in Bratislava sein. Wir dösen im Bus. Das Künstlerleben ist hart.

Das Cvernovka Atelierhaus liegt gleich gegenüber dem Busbahnhof Bratislava, wo wir ankommen. Hier bin ich schon am zweiten Tag meiner Slowakeireise gewesen und wir sind gespannt, wo das Atelier von Roman Ondak ist. Sväto ruft ihn an und er holt uns auf dem staubigen Platz ab. Roman Ondak war einer der ersten, die auf dem verlassenen Fabrikgelände ein Atelier bezogen haben. Dann folgten viele junge Künstler, Architekten, Designer. Jeder vermutet ihn irgendwo in der weiten Welt, doch er zog es vor, recht unbemerkt in Bratislava zu bleiben und von hier aus seine Ausstellungen zu organisieren. Roman bietet uns einen Kaffee an, zeigt einige Objekte, die in Arbeit sind. Er hat einen großen, hohen Atelierraum, der aber bei weitem nicht so groß ist, wie ich erwartet hatte. Bei Konzeptkünstlern scheint alles im rechten Winkel zu stehen, so wie die zahlreichen Transportkisten hier. Roman bespricht mit einem Assistenten eine Arbeit für eine kommende Ausstellung, in der er ein frühes Ölbild eines Stuhles mit dem realen Stuhl kombiniert. Ich mache mich schleunigst an die Arbeit, denn ich weiß, dass er heute nur etwa eine Stunde Zeit hat und dann weg muss. Mein zeichnerischer Automatismus kommt mir zugute und ich überlege nicht lange. Als wir gehen, beschließe ich noch eine dritte Zeichnung zu machen, die die Treppe zu seinem Atelier zeigt.

Danach fährt Sväto mit mir zum Hauptplatz und zeigt mir das Tor, vor dem ich um ein Uhr stehen soll damit mir Jozef die Wohnung zeigen kann, die ich für zwei Tage bewohnen werde. Ich esse zu Mittag, bekomme dann den Schlüssel zu meinem geräumigen Reich in allerbester Lage und muss gleich wieder los zum Café Next Apache. Ein Journalist will ein Interview mit mir für eine Kulturwebsite führen. In der über dem Café liegenden, von Büchern überquellenden Wohnung des Inhabers des nächsten Apatschen, der auch als Antiquar tätig ist, können wir in Ruhe sprechen. Juraj Kovacik baut Kamera und Scheinwerfer auf, wir rücken das rote Sofa zurecht. Er fragt, Sväto übersetzt und ich antworte.

An diesem Tag gibt es noch ein Gespräch mit dem Grafiker Palo Bálik, der das Buch gestalten soll. Ich fühle mich wie ein Politiker mit einem vollen Tagesprogramm, der nicht so recht weiß wo er gerade ist, und dem man sagt, was gleich kommt, wem er ein Interview geben muss und in welche Kamera er lächeln soll. Ich bin ein wenig geistesabwesend aber es klappt alles gut. In Palos Wohnung sitzen wir am großen Küchentisch und es gibt leckeren hauchzarten Apfelkuchen, den seine Frau Janka gebacken hat. In einem riesigen Korb liegt ein riesiger, gutmütiger Hund, dessen Lieblingsspielzeug ein riesiger Stoffhund ist, sein Doppelgänger mit schlaffen Beinen. An den Wänden viel Kunst. Palo meint, dass es doch schön wäre, wenn wir ein Buch machen, in dem ich einfach alles zeichne, einschließlich dieses Geprächs und der Produktion des Buches bis zur Auslieferung. Das ist eine gute Idee, aber vielleicht ein anderes Projekt.

27. Juni

Ich gehe zu Fuß zum Hauptbahnhof und nehme den Zug nach Topoľčany. Am Bahnhof werde ich erwartet und diesmal ist der Weg nicht weit. Nástupišti 1-12 heißt das Kulturzentrum in einem unterirdischen Gang, der Bahnhof, Busbahnhof und die Altstadt verbindet. Der Projektraum liegt gerade dort, wo ein Schild zu Nástupišti 1-12 führt, den Busbahnsteigen 1-12. Dies ist das jüngste Projekt, das ich in der Slowakei besuche und alles wirkt etwas improvisiert. Der Projektraum ist ein leerstehendes, schmales Ladenlokal, das bald neu gestaltet werden soll und in dem sich eine kleine Theke mit Büchern und Getränken befindet. An den Wänden eine Ausstellung mit figürlichen Ölgemälden. Ein Stapel Bilderrahmen liegt auf dem Boden. Stühle und Bänke stehen herum. Vor dem Kunstraum ist eine Reihe von Stühlen mit einer Kette vor Diebstahl geschützt. Roh gezimmerte Sitzgelegenheiten aus Spanplatten, die von ferne an die Freiluftmöbel im Wiener Museumsquartier erinnern, laden zum Sitzen und Herumliegen ein. Auf einem Podest ist ein Schlagzeug aufgebaut. Lucas Perny hat glattes, beatleslanges Haar und trägt Anzug. Er spielt ein Solokonzert am Schlagzeug während Passanten vorübergehen, zwei Polizisten sich nach der Rechtmäßigkeit des Ganzen erkundigen und etwa fünf oder sechs Menschen das Publikum bilden. Eher eine kurze Intervention als ein Konzert. Die hallende Akustik in dem langen Gang ist extrem und passend.

Topoľčany ist nicht gerade eine schöne Stadt. Am Ende des Ganges führt eine Treppe hinaus. Ich gehe an einem sozialistischen Denkmal vorüber, vorbei an einem ehemaligen städtischen Krankenhaus, in dem nun billige Läden untergebracht sind und durch eine kurze Fußgängerzone mit vielen kleinen Reklameschildern. Ein lokaler Buchhändler hat die Fassade seines verwinkelten Hauses in der Form zweier nebeneinander stehender Bücher gestaltet. Drinnen ist es unübersichtlich voll und der Boden steigt auf und ab. Das Gefühl einer bewegten Schiffsfahrt ist im letzten Raum mit einer zentralen Kaffeebar noch extremer. Nur die expressionistischen Bauten für das Cabinet des Dr. Caligari sind noch schiefer. Ein einziger Drink würde genügen, um alles ins Wanken und zum Einsturz zu bringen. Im Eingangsbereich des Hauses entdecke ich eine Theke, an der man Bier und Wein zapfen kann, wenn man einige Cents in den Schlitz wirft. Nach dem Mittagessen in einem Restaurant mit deutschem Namen kehre ich in die Unterführung zurück, um eine letzte Zeichnung anzufertigen. Dann fahre ich mit dem Zug zurück nach Bratislava.

Vom Bahnhof gehe ich gleich zum nahe gelegenen Projektraum Tri v jednom. Im Hof steht Palo mit einer Schürze hinter einem Tisch und bereitet mit einem Spezialgerät mit Wassserdampfzylinder und zwei Heizstäben Hotdogs zu. Dazu gibt es Dosenbier, das sehr erfrischend ist. Mittlerweile kenne ich einige Gesichter der slowakischen Kunstszene. Auch Slavka von der neuen Zeitschrift " Časopis X" ist gekommen. Janka Bálik hat eine Ausstellung in dem kleinen Projektraum. Auf dem Tisch steht eine Marktwaage und auf den Wasserrohren unter der Decke und in einigen Winkeln des Raumes liegen aus Gips gegossene Bananen, die man zum üblichen Preis von 1,49 Euro pro Kilo erwerben kann. Ich nehme eine Papiertüte mit drei Bananen.

28. Juni

Kurz vor zehn treffe ich Zuzana vor dem Goethe Institut. Wir haben ein sehr angenehmes Gespräch mit der Institutsleiterin Jana Binder, die erst seit zwei Monaten hier ist. Bin ich jetzt schon ein Insider der slowakischen Kultur? Wenn ich auch vieles nicht verstehe, da ich die Landessprache nicht spreche und an jedem Ort nur kurze Zeit bin, so habe ich doch einen recht umfassenden Überblick über unabhängige slowakische Kulturprojekte gewinnen können. Immer werde ich nach einem Vergleich der slowakischen und der deutschen Kulturszene gefragt. Ich habe das Gefühl, dass gerade jetzt hier viel in Bewegung ist. Unabhängige Projekte mit meist langjähriger Erfahrung erweitern sich. Ich habe viele Kulturbaustellen besichtigt. Synagogen, Markthallen, Bahnhöfe, alte Basteien werden renoviert und umgebaut für eine neue Nutzung und um mehr Platz für ein umfangreiches Kulturprogramm zu bekommen. Alle machen alles und alle helfen mit. Die Trennung von Hand- und Kopfarbeitern scheint es in der unabhängigen Szene nicht zu geben. Künstlerische Leiter greifen ganz selbstverständlich zu Schaufel und Schubkarren. Wo in Deutschland lange gezögert wird und man die Frage abwägt, ob das denn auch zu bezahlen sei, geht man hier Wagnisse ein. Oft hörte ich auf die Frage, wie es mit der Finanzierung stehe, dass man zehn, zwanzig oder dreißig Prozent der Summe habe, sich schon mal an die Arbeit mache und zuversichtlich sei, dass der Rest auch noch reinkomme. Die unabhängige Szene sieht eine große Notwendigkeit für ihre Arbeit und macht sich voller Optimismus und Eigeninitiative ans Werk.

Zuzana und ich gehen in das Café Next Apache, das in der gleichen Straße liegt. Wir trinken Cappuccino und sie sagt, dass gleich noch jemand von einem unabhängigen Sender anrufen werde. Ihr Handy klingelt bald darauf, ich gehe in den Hof und beantworte in englischer Sprache die Fragen. Zuzana muss weiter um ihre Schwester zu sehen, die gerade Mutter geworden ist.

Am Nachmittag besuche ich den letzten Kulturort meiner Reise, die Photoport Gallery. Filip Vančo hatte ich schon gestern Abend kennengelernt. Die Galerie liegt gleich über dem Tri v jednom Atelier. Filip  hat ein durchdringendes Lachen und ist ein guter Freund von Palo. Er zeigt mir den Ausstellungsraum und ist etwas erstaunt, als ich mich vor allem für den Backstagebereich interessiere, das Bilderarchiv, die Dunkelkammer und sein Büro, das wahrhaft abenteuerlich aussieht. Die holzvertäfelte Bar im Stil einer Schiffskajüte mit einer geschwungenen Theke und vielen Fotos an den Wänden passt zu einem gemütlichen Clubheim. Juraj Kovacik kommt, der mich für seine Kulturwebsite beim Zeichnen filmen will. Das Licht ist etwas trübe hier, doch es geht. Als seine Datei voll ist, hat er genug Filmmaterial und ich fertige noch eine letzte Zeichnung nur für mich an. Zuzana hat mir per SMS mitgeteilt, dass gegen 16 Uhr eine Journalistin von der deutschsprachigen Abteilung des slowakischen Radios rtv mit mir ein Interview führen will. Darin bin ich mittlerweile geübt. Alle Blätter sind vollgezeichnet, das letzte Interview geführt, als auch schon Zuzana kommt. Wir fahren mit dem Bus zurück. Sie hat einen Termin in der Nationalgalerie, ich gehe in meine Wohnung.

Am Abend sind wir in der Kneipe Basta Prasta in einer ruhigen Seitenstraße der sonst sehr touristischen Altstadt. Sväto und Zuzana sind schon dort. Ich komme später dazu. Michal Moravčík gesellt sich zu uns, ein slowakischer Künstler, den ich schon von einem früheren Aufenthalt in Bratislava kenne. Durch Zufall lerne ich schon heute Abend den Schriftsteller Michal Hvorecký kennen, der nach einem Kinobesuch mit seiner Frau hereinkommt. Dies scheint ein Treffpunkt der Kulturszene zu sein. Für morgen Vormittag haben wir uns mit Michal zum Frühstück verabredet. Er wird einen Text für das Buch schreiben.

29. Juni

Heute ist der Tag meiner Rückfahrt - neun Stunden mit dem direkten Zug von Bratislava nach Berlin. Um halb zehn warte ich mit meinem Gepäck auf einer sonnigen Bank auf dem Hauptplatz. Die ersten Buden haben schon aufgemacht. Von hier aus können sich die Touristen mit einem Miniatur-Nostalgiebus, den man sonst nur auf der Kinderkirmes vermuten würde, durch die Altstadt fahren lassen. Bald schon kommen Zuzana und Sväto. Wir nehmen in einem Café Platz, bestellen Kaffee, als auch schon Michal Hvorecký kommt.

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