Matthias Beckmann

Muss ich verstehen, was ich zeichne?


"Was ist über ihn zu sagen? Dies: Patou ist ein ausgeprägter Augenmensch. Patou hat die verwöhntesten Augen. Patou ist ein unbedingter Gucker. Leute, die sich mehr aufs Denken angewiesen sehen, würden Patou für einen halten, der gänzlich unreflektierend gedankenlos durch die Gegend stolpert. Recht haben sie. Patou nämlich nimmt die Erscheinung der Dinge von der Seite, die sie ihm anbieten. Er geht nicht um die Sache herum, ihn interessiert nicht die Kehrseite, es sei denn, die Sache selbst dreht sich ihm so zu, daß die Kehrseite zur Vorderseite wird." (1)
Horst Janssen


Komme ich durch das Zeichnen zu Erkenntnissen?

Als ich die Einladung zu dem Symposium "Zeichnen als Erkenntnis" erhielt, habe ich mich gefragt, worin die Erkenntnis des Zeichnens besteht. Worin liegt sie für mich persönlich?Komme ich durch das Zeichnen zu Erkenntnissen und erlange ich durch neue Zeichnungen auch neue Erkenntnisse? 

Da ich als Zeichner vor dem Motiv arbeite, stelle ich mir die Frage zunächst einfacher: Verstehe ich die Dinge, die ich zeichne, besser? Oder zugespitzt gefragt: Muss ich verstehen, was ich zeichne? Oder ist es vielleicht gerade ein Vorteil wenn ich nicht verstehe was ich zeichne? Und falls die Erkenntnis nicht in der Erkenntnis der Dinge liegt, mit denen ich mich als Zeichner beschäftige, worin könnte dann die Erkenntnis liegen?

Sind Künstler Wissenschaftler?

Ich erlebe, dass heute häufig von einer Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft gesprochen wird und dass sich Künstler als Forscher verstehen. Künstler untersuchen, Künstler forschen, Künstler experimentieren und loten Möglichkeiten aus, sie hinterfragen, analysieren und arbeiten an Projekten. Das Atelier wird zum Labor. Es wäre interessant einmal die Ausstellungen, künstlerischen Projekte und Museumsangebote der letzten Jahre aufzulisten, die im Titel die Begriffe "Labor", "Lab", "Forschung" oder "Research" haben. Die Liste wäre lang.

Wenn man den künstlerischen mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess vergleicht, sollte man annehmen, dass mit der kontinuierlichen Weiterarbeit am eigenen künstlerischen Werk auch ein entsprechender stetiger Erkenntniszuwachs verbunden ist. Der Künstler als Forscher wird also eine neue künstlerische Arbeit nur dann beginnen, wenn er sich davon neue Erkenntnisse verspricht. Wenn das so wäre, würde ein Großteil meiner Zeichnungen nicht entstehen.

Ich gestehe, dass ich an einer Vergleichbarkeit von Kunst und Wissenschaft und von wissenschaftlicher und künstlerischer Erkenntnis zweifle. Ich denke, dass sich das Vorgehen und die Erkenntnisse der Künstlerinnen und Künstler grundlegend von denen der Wissenschaftler unterscheiden. Künstler müssen sich nicht den analytischen, objektivierbaren Methoden der Wissenschaft unterziehen und ihre Erkenntnisse lassen sich auch nicht durch neue Werke oder Theorien widerlegen. Auch der Fortschrittsgedanke lässt sich nur bedingt auf die Kunst anwenden.

Die Erkenntnis liegt nicht in den Inhalten

Ich denke, dass die Aufgabe der Kunst und damit auch der Zeichnung eine andere ist. Gerade die subjektive, intuitive Arbeit ist die Stärke der Künstler - das, was sich nicht vollständig erklären oder objektivieren lässt. Künstler sind weder Wissenschaftler noch Intellektuelle, wenngleich sie auch über eine umfangreiche Bildung verfügen können und in ihrer Arbeit planvoll vorgehen. Die Erkenntnisse im künstlerischen Bereich liegen häufig nicht in den dargestellten Inhalten sondern auf einem Feld, das man mit den Begriffen Wahrnehmung, Ästhetik, Verhältnis von Innenwelt und Außenwelt, Sensibilität, Intuition, Phantasie, bildnerische Erfindung, einem anderen Blick auf das Bekannte umschreiben kann.

Die Funktionen und Arten der Zeichnung sind vielfältig und damit auch die Erkenntnismöglichkeiten. Man kann Zeichnung losgelöst von jeder Abbildungsaufgabe verstehen und sich mit den autonomen bildnerischen Mitteln beschäftigen. Zeichnen kann eine Möglichkeit sein, die Bewegungen des Körpers, der Gedanken und Gefühle festzuhalten. Mit Hilfe der Zeichnung machen wir uns ein Bild von etwas. Ich erlebe wie sich erst durch den Prozess des Zeichnens Vorstellungen entwickeln. Zeichnen ist ein Instrument der visuellen Erkenntnis. Der Fußballtrainer skizziert die Mannschaftsaufstellung. Ich kann den Weg von A nach B durch eine rasche Skizze verdeutlichen. Man kann dokumentieren, abstrahieren, karikieren, illustrieren, experimentieren, innerhalb des Papierformats bleiben oder die Zeichnung in den Raum, die Performance, den Film, die soziale Umgebung erweitern.

Als beobachtender Zeichner will ich die Dinge nicht verstehen

In meinen Überlegungen will ich vor allem über die Erkenntnis des beobachtenden Zeichnens sprechen. Ich werde von meiner Art zu sehen und zu zeichnen berichten und mich fragen, wo ich dort Möglichkeiten der Erkenntnis sehe und inwieweit es die Suche nach Erkenntnis ist, die mich als Zeichner leitet.

Für meine umfangreichen Zeichenfolgen besuche ich ausgewählte Orte und Institutionen. Dort zeichne ich meist über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten vor dem Motiv. So entstehen Zeichenserien über Museen, die romanischen Kirchen in Köln, ein Automobilwerk, die Bereiche Chirurgie, Radiologie und Pathologie der Berliner Charité, das Rundfunkhaus des rbb oder das vietnamesische Leben im Berliner Bezirk Lichtenberg. Ich gehe hinaus in die Welt und komme auch an Orte, die ich sonst nicht besucht hätte. Ich will mit eigenen Augen sehen, was ich zeichne und mich nicht auf mediale Bilder, eigene oder fremde Fotos verlassen, die schon einen Wahrnehmungsfilter darstellen.

Auch wenn ich reale Orte und Situationen zeichne, verstehe ich mich nicht als dokumentarischer Zeichner. Dokumentation findet statt, doch ist es nicht primär die Dokumentation, die mich interessiert. Am ehesten sehe ich mich als Beobachter. Ich versuche nicht zu werten oder zu analysieren, nicht zu bestimmen, was wichtig und was unwichtig ist. Denn mit welchem Recht wird dieses als wichtig und jenes als unwichtig eingeordnet? Ich will vielmehr gleichgültig gegenüber den Dingen bleiben, indem ich alle Dinge gleich wichtig nehme.

Ich würde so weit gehen, dass ich im Grunde nicht daran interessiert bin, die Dinge und Situationen zu verstehen, die ich zeichne. Mein Verständnis der menschliche Anatomie oder chirurgischer Methoden hat sich nicht bedeutend dadurch erweitert, dass ich über einen längeren Zeitraum im Operationssaal gezeichnet habe. Der Zeichenprozess ist dadurch bestimmt, dass ich das Sichtbare, das Verhältnis von Positiv- und Negativform, die Proportionen, die Verflechtung der Dinge und Personen im Raum beobachte. Ich betrachte die Welt als ein abstraktes Gebilde, als ein Flächenornament oder ein Mosaik, dessen Teile zueinander in einer formalen Beziehung stehen. Mein Erkenntnisinteresse liegt nicht primär in den Inhalten der Objekte und Situationen sondern im Vorgang des Sehens selber. Man könnte auch einfach von einem Vergnügen am Sehen sprechen.

Eine wohlbekannte Zeichenübung von Betty Edwards, was Otto Dix zu sagen hat und über das Fälschen von Unterschriften

Ein Parallele zu meiner Art zu sehen und zu zeichnen findet sich in einer Übung, die Betty Edwards in ihrem Buch "Garantiert zeichnen lernen" (2) empfiehlt. Die Autorin geht davon aus, dass uns das vermeintliche Wissen über die Dinge und ihre Bedeutung oft davon abhält, sie mimetisch "richtig" abzubilden. Weil das Gesicht des Menschen für uns wichtig ist, zeichnen wir es groß und vernachlässigen das Volumen des gesamten Schädels. Weil wir wissen wie lang ein Tisch ist, können wir uns nicht darauf einlassen, zu zeichnen, was wir sehen und scheitern an der Verkürzung. Betty Edwards' recht bekannte Übung für Anfänger besteht darin, die lineare Porträtzeichnung, die Picasso von Strawinsky angefertigt hat (3), auf den Kopf zu stellen und so abzuzeichnen, dass man die Bedeutung des Dargestellten ignoriert und nur Linien, Formen und Richtungen beachtet. Die Ergebnisse dieser Übung sind meist näher am Vorbild und ähnlicher als die konventionellen Zeichnungen von Anfängern. Es kann also durchaus hilfreich sein, die Dinge auf den Kopf zu stellen, das Alltagswissen auszuschalten und ohne Vorurteile zu sehen.

Weil es beim Zeichnen um abstrakte Kategorien wie Formen, Proportionen, Linien und Richtungen geht, ist eine Unterscheidung von gegenständlicher und ungegenständlicher Zeichnung irrelevant. In diesem Sinne ist Zeichnung immer abstrakt. Das Zeichnen nach der Natur ist im Kern ein ungegenständliches Zeichnen. Man könnte sogar behaupten, dass eine größtmögliche Ähnlichkeit zwischen Zeichnung und Abgebildetem erst durch ein Sehen entsteht, das vom Gegenständlichen absieht und nur die formalen Aspekte betrachtet und imitiert.

Otto Dix, der große Realist, hat das auf den Punkt gebracht: "Wissen Sie, wenn man jemanden porträtiert, soll man ihn möglichst nicht kennen. Nur nicht kennen! Ich will ihn gar nicht kennen, will nur das sehen, was da ist, das Äußere." (4)

Wenn man eine Unterschrift fälscht, kommt es darauf an, die formalen, abstrakten Eigenschaften der Schrift zu erfassen. Besondere Freude macht es mir, Dinge zu zeichnen, die ich nicht verstehe und die ihre Wiedererkennbarkeit nur durch eine Imitation der formalen Eigenschaften erhalten. Die Zeichnung nach den kyrillischen Graffiti, die sowjetische Soldaten im Reichstagsgebäude hinterließen und deren Bedeutung ich nicht kenne, kann stellvertretend für meine Vorstellung vom Zeichnen stehen.

Es gibt nichts Wichtiges und nichts Unwichtiges

Ich sammle durch meine Zeichenprojekte neue Einsichten über Orte oder gesellschaftliche Zusammenhänge, doch bleibt der Prozess des Zeichnens davon eher unberührt. Mich fasziniert der Versuch, das, was vielfältig, plastisch, bewegt, lichtdurchflutet, körperlich, voller Leben ist, im Medium der linearen Zeichnung umzusetzen.

Es sind keine analytischen Zeichnungen, da ich nicht in die Tiefe dringe und nicht versuche, die Funktionsweise der Objekte zu verstehen wie etwa bei klassischen anatomischen Zeichnungen. Wenn ich einen Menschen zeichne, baue ich ihn nicht von innen her auf. Ich denke nicht an das Skelett oder die Muskeln, sondern ich versuche die äußere Erscheinung  umzusetzen. Häufig zeichne ich komplexe Räume. Ich habe perspektivische Grundkenntnisse, doch konstruiere ich die Perspektive nicht und verwende auch keine Hilfslinien. Vielmehr gehe ich vom Seheindruck aus und setze meine Linien ohne Korrekturen, Ich setze auch keine Schwerpunkte sondern ich behandle die Dinge gleichwertig. Ich behaupte nicht, dass dieses oder jenes bedeutsamer als anderes ist oder dass es so etwas wie ein Wesen oder die Essenz der Dinge gibt.

In meiner umfangreichen Zeichenserie über Berliner Ateliers widme ich mich der Darstellung scheinbar nebensächlicher Details wie Regalen, Abfalleimern, Noppenfolienrollen oder dem Blick durch die Jalousie eines Fensters mit der gleichen Sorgfalt wie den Kunstwerken, die ich dort sehe. Und das bereitet mir Vergnügen. In dieser Negierung jeglicher gesellschaftlicher Bedeutungshierarchien liegt für mich der subversive und humoristische Aspekt meiner Zeichnungen. Aura und Alltag treffen aufeinander.

Nicht jede Erkenntnis des Zeichners findet sich auch in der Zeichnung wieder

Mein Zeichnen ist eine Hinwendung zur Welt und zugleich eine Distanzierung. Die neuen Erkenntnisse meiner Zeichenprojekte gründen meist auf Erlebnissen, die sich kaum in der Zeichnung niederschlagen. Ich erfahre wie die Hierarchie in einem Operationssaal funktioniert, wie unterschiedlich Künstlerinnen und Künstler über ihre Arbeit sprechen oder mit mir umgehen wenn ich sie im Atelier besuche, wie sorgfältig und konzentriert ein Restaurator arbeitet, wie fremd ich in einem vietnamesischen Großmarkt bleibe und wie herzlich ich in der buddhistischen Pagode in Berlin-Lichtenberg aufgenommen werde.

Mein persönliches Fazit meiner Arbeit als Zeichner ist, dass es für mich oft hilfreich ist, die Dinge nicht verstehen zu wollen. Es gibt zwar eine Erkenntnis beim Zeichnen, doch führt nicht jede weitere Zeichnung zu weiterem Erkenntnisgewinn. Auch ist die künstlerische Erkenntnis nicht unbedingt an den Gegenstand, das Thema, die soziale Realität gekoppelt, die den Anlass der Zeichnung bildet.

Mein Erkenntnisinteresse liegt in der Beobachtung und im Akt des Sehens. Überall gibt es Welt, Dinge im Raum, die in besonderer Weise angeordnet sind, Durchblicke, Relationen, Formen, Zwischenformen. Und in diesem Sinne ähneln sich auch alle Orte, die ich besuche, ob es der Bundestag, eine Fabrik oder eine Kirche ist. Alle diese Dinge im Raum gilt es zu betrachten und zu akzeptieren. Ich nehme das Inhaltliche und Soziale, das den Anlass meiner Zeichenserien bildet, nicht allzu ernst da es in der Umsetzung vor allem um formale Kategorien geht und um die Lust am Zeichnen. Als Zeichner bin ich interessiert an meinem Gegenstand und zugleich gleichgültig.

Zeichnen bedarf keiner Begründung

Mein zeichnerischer Ansatz ist nur einer unter vielen und meine Gedanken über den Erkenntnisgewinn lassen sich deshalb auch nicht auf das Zeichnen an sich übertragen. Es ist gut, dass es die unterschiedlichsten Vorstellungen über Sinn und Zweck des Zeichnens gibt. Ich begreife das Zeichnen als eine Tätigkeit, die ihren Sinn in sich selber hat und keiner Begründung oder theoretischen Untermauerung bedarf. Ich würde auch zeichnen wenn ich damit keine Erkenntnis erlange, einfach aus Freude am Zeichnen. In diesem Sinne untersuche ich nichts mit meinen Zeichnungen und verfolge keinen Diskurs. Ich zeige die Dinge nicht wie sie sind, sondern wie ich sie sehe.

Ich sehe meine Arbeit in der Tradition einer Zeichenkunst aus der Beobachtung. Es geht um das Verhältnis einer auf die Mittel der Linie und das Blattformat beschränkten Bildwelt zu einer äußeren Welt, die sich mit diesen Mitteln nicht wirklich fassen lässt. Die zweidimensionalen zeichnerischen Mittel der Linie sind im Grunde ungeeignet zur Darstellung einer komplexen, vieldimensionalen Realität, und doch gelingt es, wenn schon keine objektive Abbildung, so doch eine parallele kleine Welt auf dem Papier herzustellen. Mein elementares zeichnerisches Mittel, die Linie, die die Gegenstände umreißt, gibt es in der Natur nicht.

William Blake hat es so ausgedrückt: "Nature has no Outline, but Imagination has". (5)

 

(1)
Horst Janssen, Rede Mannheim - Zur Verleihung des Schiller-Preisesin: Horst Janssen, Querbeet, München 1982, S. 308

(2)
Betty Edwards, Drawing on the Right Side of the Brain (deutscher Titel: Garantiert zeichnen lernen), 1979

(3)
Pablo Picasso, Portrait Igor Stravinsky, 1920, Bleistift auf Papier, Privatsammlung

(4)
Interview mit Otto Dix, Diplomatischer Kurier, 14. Jg., Köln 1965 (Maria Wetzel), in: Otto Dix, Ausstellungskatalog Villa Stuck, München 1985, S. 285

(5)
William Blake, The Ghost of Abel, 1822

 

 

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