Matthias Beckmann

Menschen in der Sparkassenakademie


Als Zeichner, der gerne auf dem Papier seine Linien zieht, zieht es mich immer wieder an Orte, die mir Lust machen, sie mit dem Stift festzuhalten. Manche nennen dieses Festhalten Dokumentation, doch ich bin nicht sicher, ob der Begriff die Sache wirklich trifft. Ich glaube, die Motive sind für mich einfach ein Anlass, das zu tun, was ich immer schon gerne getan hab – zu zeichnen. Deshalb habe ich mit Freude die Einladung der GWK, in der Westfälisch-Lippischen Sparkassenakademie in Münster zu zeichnen, angenommen.  

Das Zeichnen in Serien vereinfacht dabei die Motivwahl. Wenn ich mir ein Thema gesetzt habe oder wenn mir jemand gesagt hat, was ich zeichnen soll, wenn ich also meinen Ort gefunden habe, muss ich nicht immer wieder überlegen, was ich mache und warum. Ein Thema beengt ja keineswegs die Freiheit, im Gegenteil: Es ist mir ein willkommener Anlass – wenn man mich bei der Umsetzung in Ruhe gewähren lässt, was man in Münster tat. Ich konnte mich in der Sparkassenakademie ganz dem Beobachten und Zeichnen hingeben. Da ich mich ranhalte und gerne, viel und zügig zeichne, war damit zu rechnen, dass auch zahlreiche Blätter entstehen und dass es viel zu sehen geben wird. Vor allem sind es räumlich komplexe Situationen, die mich reizen: am besten ein nicht allzu übersichtlicher Raum mit einigen Objekten vorne, einigen in der Mitte und einigen hinten. Wenn es gut läuft, bin ich mit einer wunderbar vertrackten Situation konfrontiert, in der alles ineinander greift – Raum, Objekte, Menschen. Diese sind auch Körper im Raum, wenn auch beseelte Körper. Die Menschen interessieren mich einerseits, andererseits aber sind sie mir so gleichgültig wie alles andre, was ich sehe, in dem Sinne, dass eben alles gleich gültig ist, die gleiche Berechtigung hat und die gleiche Sorgfalt in der Beobachtung verlangt.

Unser Alltagsblick und unsere Erfahrung sagen uns, dass es wichtigere und unwichtigere Dinge gibt. Wir haben gelernt, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, und so blenden wir, bewusst oder unbewusst, vieles von dem, was wir sehen, hören, riechen oder fühlen, aus. Wenn ich jedoch zeichne, ist mir alles Form und ich werde naiv, indem ich alles einfach wahrnehme und ernst nehme. Dadurch wird das Ernste weniger ernst, denn es darf nicht so wichtig werden wie im wirklichen Leben. Und wer sagt mir denn, dass der Mensch wichtiger ist als der Stuhl, der Sparkassendirektor bedeutender als der Koch, der Gegenstand wichtiger als der Schatten, den er wirft? Das alles sind Konventionen, die wir brauchen, um zu funktionieren und im Alltag den Überblick nicht zu verlieren. Als Zeichner kann mir das alles egal sein. Die Lust beim Schauen und Zeichnen besteht zu einem großen Teil darin, die Welt unvoreingenommen zu sehen, und ich hoffe, dass mir das beim Zeichnen gelingt.

So hat das, was man manchmal abschätzig „abzeichnen“ nennt, möglicherweise auch etwas verspielt Subversives: Die Hierarchien der Welt werden ignoriert, alles wird gleichberechtigte Form auf dem Blatt. Beim Zeichnen bin ich zugleich genau und frei. Ich schaue mir die Formen genau an und übersetze sie dann in eine reine Liniensprache. Farbe, Schatten, Plastizität, Oberflächenstrukturen, all das kann und will ich mit meinen Linien nicht einfangen. Und dennoch ist all das immer noch in ihnen vorhanden. Denn Räumlichkeit und Volumen entstehen beim Betrachten der Zeichnung dadurch, dass wir im Kopf die reduzierte Bildsprache wieder ergänzen. Auch die Erlebnisse vor Ort sind eingefangen, alles habe ich dort in realen Situationen gezeichnet, ohne Korrekturen und ohne einem Menschen zu sagen: „Bleib stehen, beweg‘ dich nicht.“ Alles kommt, wie es kommt. Wenn ich zeichne, bin ich der Beobachter, der das akzeptiert und Zug um Zug das Blatt füllt mit seinen Linien, die zu Räumen, Dingen, Personen und Handlungen werden, die einem fotografischen Schnappschuss gleichen könnten und die dennoch in einem zeitlichen Prozess entstanden sind. Wenn Personen auf dem Blatt erscheinen, ist klar, dass es nie einen Augenblick gab, in dem sie in dieser Form fotografierbar gewesen wären, in dem alles faktisch so war, wie es hier dargestellt ist, weil der Mensch, dessen Oberkörper ich umreiße, im selben Moment seine Beine schon wieder bewegt, seine Position im Raum verändert; ganz zu schweigen von den Personen um ihn herum. Aber das ist kein Grund, die Ruhe zu verlieren. Denn mein Ziel ist nicht die Momentaufnahme, sondern eine Zeichnung, die in sich schlüssig wirkt.

Was ich hier schreibe, ist weder Philosophie noch Konzept. Ich skizziere ganz einfach die Realität des Zeichners. Abgesehen davon aber funktionieren die Blätter auch als eine Art Dokumentation, gehen sie doch aus realen und wiederkennbaren Situationen und Details hervor.

In der Westfälisch-Lippischen Sparkassenakademie in Münster hatte ich den Auftrag, für eine Wand in der Kantine ein Kunstwerk zu schaffen, eine Serie von Zeichnungen, die sich mit den Menschen in der Sparkassenakademie beschäftigt. So können später die Menschen, die auf dem Weg zum Essen an den Bildern vorbeikommen, die gezeichneten Personen anschauen –vielleicht sollte ich sogar sagen „beobachten“ –, den einen oder die andre erkennen sie möglicherweise wieder. Nachdem ich eine erste Führung durch die Akademie bekommen hatte, bei der ich auch einigen Mitarbeitern vorgestellt wurde als der, der bald alles zeichnen wird, bin ich mehrere Tage durch die Räume gestreift, habe hier und dort gestanden oder auf meinem klappbaren Anglerhocker gesessen und die Blätter mit Linien gefüllt. In Seminaren habe ich gefragt, ob ich mich dazusetzen dürfe. Für mich war in der Sparkassenakademie alles neu, vom Sparkassenwesen verstehe ich höchstens so viel wie die Dozenten und Lernenden dort vom Handwerk des Zeichners. Da ich aber immer freundlich aufgenommen wurde und nicht alles, was ich aufs Papier bringe, verstehen muss, sondern voller Vertrauen einfach zeichne, ist es mir auch gut ergangen. Weil in der Akademie nichts Greifbares hergestellt wird und es keine Produkte zu bestaunen gibt, habe ich die alltäglichen Begebenheiten aufgezeichnet: Menschen in Seminarräumen, beim Schlange-Stehen vor der Kantine, beim Gespräch im Foyer, ich habe den Blick auf den Parkplatz gezeichnet, ein wahrhaft verschlungenes Kunstwerk im zentralen offenen Treppenhaus, die Mitarbeiter in der Kantinenküche, mich selber im Spiegel des Fitnessraums, Kickerfiguren, die Ansicht der Sparkassenakademie vom gegenüberliegenden Bürogebäude, den Empfangstresen und vieles mehr.

In diesem Heft sind meine Sparkassenakademie-Zeichnungen so angeordnet, dass sich ein Spaziergang durch die Akademie ergibt. Die Blätter sind mal voller, mal leerer, mal räumlich hochkomplex, verwirrend, und dann wieder ganz schlicht, auf einige Figuren auf leerer Fläche reduziert, so dass sich der Raum durch deren Größe und Verteilung auf dem Blatt ergibt. In der Sparkassenakademie selbst haben wir zwanzig Blätter aufgehängt, acht von ihnen hängen mit einigem Abstand zum Betrachter an der Kantinenwand hinter einer Brüstung. Da der Bleistiftstrich dünn ist, muss man sich schon etwas vorlehnen und genau hinschauen. Die Zeichnungen an der Wand springen die Betrachtenden nicht an, wer sie betrachten will, muss in sie hineinschauen. Sie sind ein Angebot, wie dieses Buch, kein Überfall.

Mir hat das das Zeichnen Freude gemacht und ich hoffe, dass sich beim Betrachten auch Freude einstellt. Zumindest gibt es einiges zu sehen.

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