Uwe Schramm

Matthias Beckmann zeichnet im Centre Georges Pompidou in Paris

 

Matthias Beckmanns vorliegende Folge von Zeichnungen entstand während eines längeren Arbeitsaufenthaltes in Paris. Fasziniert vom pulsierenden Leben der Großstadt entwickelte sich die Idee zu einem gezeichneten Tagebuch, das die Vielzahl von persönlichen Eindrücken und Erfahrungen möglichst unmittelbar auffangen und dokumentieren sollte. Beim Durchstreifen der Stadt, auf den häufigen Ausflügen in die Umgebung wurde so das Skizzenbuch für den Künstler zu einem unablässigen Begleiter. Der Künstler zeichnete zunächst alles, was ihn interessierte – den Autoverkehr in den Straßen, das anonyme Antlitz von Geschäften, Gebäuden und öffentlichen Plätzen, scheinbare Banalitäten und Alltägliches, Menschen in unterschiedlicher Umgebung, ob bei der Fahrt mit der Metro, in Bistros und Restaurants oder beim traditionellen Picknick an der Seine.

Zunehmend interessant wurden für Beckmann schließlich die zahlreichen Museen von Paris. In den Sälen und Kabinetten ließen sich die ausgestellten Kunstwerke nicht nur betrachten, sondern auch mit dem Zeichenstift kopieren und Strich für Strich – die Oberfläche mit den Blicken ertastend und verschiedene Ansichten aufgreifend – zeichnerisch erkunden. So füllten sich die Seiten seiner Skizzenbücher allmählich mit gezeichneten Anmerkungen zu Meisterwerken der Kunstgeschichte.

Angeregt durch seine Begegnung mit asiatischen Leporellos war Beckmann zunehmend dazu übergegangen, für seine Aufzeichnungen eben eine solche Darstellungsform anstelle der herkömmlichen Skizzenbücher zu verwenden, da ihm das Leporello – anders als ein aus Einzelseiten bestehendes Skizzenbuch – mit seinem System aus zusammenhängenden, ineinander gefalteten Seiten die Möglichkeit bot, durchgehende Zeichnungsfolgen anzufertigen sowie die Bewegung und Zeitlichkeit der Wahrnehmung als formales Element mit in die zeichnerische Darstellung zu integrieren. So entstanden mit Zeichnungen versehene Leporellos, die etwa den Gang durch den Louvre dokumentieren oder einen Panoramablick in einen alten Kinosaal des Musée Grevin wiedergeben.

Matthias Beckmann ist ein ebenso geduldiger wie sensibler Beobachter, der mit wachem Auge die in der gewohnten Normalität verborgenen Fragwürdigkeiten und skurrilen Absurditäten eingefahrener Verhaltensnormen registriert. So wurde ihm das in Museen häufig zu beobachtende Anfertigen von Schnappschüssen per Fotoapparat vor einem der ausgewählten Meisterwerke zum Anlaß, nun seinerseits Momentaufnahmen von bestimmten Ausstellungssituationen anzufertigen - allerdings nicht mit den Mitteln der Fotografie, sondern mit dem Medium der Zeichnung. Galt sein Interesse beim Besuch der Museen zuvor noch primär den Exponaten, so manifestiert sich nunmehr die besondere Aufmerksamkeit des Künstlers für das Motiv des Kunstbetrachters und dessen eigentümliche Verhaltensweisen.

Von einem seiner häufigen Besuche des Centre Georges Pompidou stammt auch das vorliegende Leporello. Die Zeichnungen entstanden binnen weniger Stunden, als eine Art direkte graphische Niederschrift der Wahrnehmung. Auf 24 kleinformatige Einzelsegmente verteilt gibt uns der Künstler einen ganz persönlichen, manchmal erfrischend respektlosen und mitunter durchaus erhellenden Kommentar zur Kunstgeschichte der Moderne. Entstand die erste Zeichnung, die die Freundin des Künstlers vor einer Videoinstallation des Schweizer Künstlers Roman Signer zeigt, noch unbemerkt für das Modell, so zeigen die nachfolgenden Zeichnungen gestellte, mit dem Modell abgesprochene Situationen, die mit feinsinniger Ironie das traditionelle Genre des Kunstbetrachters vor den unzählige Male fotografierten und in prachtvollen Bildbänden abgebildeten Inkunabeln der Moderne aufgreifen.

Matthias Beckmanns gezeichneter Gang durch die Moderne beginnt mit einer in Rückenansicht gegebenen Betrachterin, die sich vor einer mit Fotografien bestücken Wand befindet. Er endet mit dem Blick aus dem Bild, der uns als Betrachter des Leporellos in die paradoxe Lage versetzt, nun selbst betrachtet zu werden. Im weiteren wird sichtbar, dass sich der Künstler auf die Betrachtung weniger Details beschränkt. Teile von Gesicht und Körper der im folgenden immer wieder auftretenden Person sind wie die gesamte Umgebung und mit ihr die zitathaft ins Bild gesetzten, in den Museumsräumen befindlichen Kunstobjekte auf das Wesentliche beschränkt. Binnenzeichnung als Mittel der Betonung von Körperlichkeit und Plastizität fehlt fast vollständig. Beckmanns Linienführung definiert Umrisse, Positionen im Raum, Proportionen, ohne sich in anekdotenhaften Details zu verlieren und damit von der eigentlichen Bildaussage abzulenken. Mit wenigen Strichen gelingt es dem Künstler, eine emotionale Nähe zwischen Darstellung und Betrachter herzustellen. Das Fehlen jeglicher konkreter Details bedingt die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das Wesentliche der Bildaussage, die Besonderheit der Wahrnehmung des beobachtenden und mit dem Zeichenstift erzählenden Subjekts.

Der häufig zu beobachtende Anschnitt der Motive suggeriert das Zufällige und Momenthafte, die der dargestellten Situation innewohnende Dynamik. Dem Künstler geht es hierbei weniger um die Wiedererkennbarkeit der von ihm gezeichneten und vielfach bekannten Objekte, Bilder und Skulpturen, wenngleich seine Darstellungen gerade so viel an visuellen Informationen bereithalten, um das entsprechende Räderwerk im Kopf des mehr oder weniger geübten Kunstbetrachters in Gang zu setzen und die zitathaft angedeuteten Werke identifizieren zu können. Als das eigentliche, durchgängige Motiv des Leporellos erscheint aber der individuelle Blick, der Vorgang des in Bewegung befindlichen Sehens. Dessen Inszenierung und das unmittelbare Ins-Bild-Setzen der subjektiven Wahrnehmungshaltung erscheinen hier als übergreifende und die Einzelbilder miteinander verbindende Themen.

Beim formalen Aufbau seiner Darstellungen orientiert sich Beckmann vielfach an filmischen Techniken. In souveräner Weise spielt der Künstler mit verschiedenen Perspektiven, extremen Blickwinkeln, Nahansichten, ausschnitthaften Vergrößerungen, Unter- und Aufsichten, was dem Betrachter die Illusion eines in ständiger Bewegung befindlichen Kameraauges verschafft. Asymmetrische, von stürzenden Linien geprägte Bildausschnitte verweisen auf ein unmittelbares, von persönlichen Eindrücken getragenes Erleben des Künstlers in Bezug auf seine Umgebung und das von ihm ausgewählte Geschehen. Die Form der ausschnitthaften Fragmentierung verweist auf die momentane Verdichtung von vorbeifließenden Eindrücken und die zeitbedingte Abhängigkeit der in die Darstellung integrierten visuellen Erfahrung.

Matthias Beckmanns Leporello erweist sich als konzentrierte Darstellung von Wahrnehmung als solcher. Seine Zeichnungen zeugen von einer ausgeprägten Sensibilität für formale Berührungspunkte, die ansonsten voneinander getrennte Bezugssysteme aufgrund ihrer visuellen Ausdrucksqualitäten miteinander in Verbindung bringen. So arbeiten auch die Zeichnungen des Leporellos mit zum Teil demonstrativ in Szene gesetzten Formähnlichkeiten, um damit einerseits bestimmte künstlerische Gestaltungsprinzipien hervorzuheben und diese für den außenstehenden Betrachter auf sublime, zum Teil humorvolle Weise nachvollziehbar zu machen, sich andererseits zugleich souverän über die eingefahrenen Prämissen der Kunstbetrachtung und Kunstinterpretation hinwegzusetzen.

So wirft etwa die mittels eine schwarzen, sanft geschwungenen Linie dargestellte Öffnung einer Handtasche aufgrund der formalen Ähnlichkeit zu einer im Hintergrund befindlichen geschlitzten Leinwand Lucio Fontanas ein bezeichnendes Licht auf dessen künstlerisches Gestaltungsprinzip. Ein einzelnes, im extremen Anschnitt gegebenes Hosenbein kommuniziert wortlos, formal aber dennoch einsichtig mit den von Filz umgebenden Füßen eines von Joseph Beuys bearbeiteten Konzertflügels. Die körperhafte Präsenz einer aus mehreren biomorph gestalteten Segmenten bestehenden Skulptur von Otto Freundlich gewinnt an Eindringlichkeit durch die hinzugefügte Betrachterin, während die groteske Übersteigerung der Formen bei Alberto Giacometti erst durch die unmittelbar gesetzte Konfrontation zwischen dessen Skulptur und den Gesichtszügen der auftauchenden Betrachterin anschaulich zu werden scheint. Im Unterschied zu gedruckten Aufarbeitungen musealer Sammlungsbestände erfährt der Betrachter hier weder etwas über die Entstehungsgeschichte der abgebildeten Kunstwerke, noch den genauen Titel, den Namen des Künstlers oder das jeweilige Entstehungsjahr. Beckmann geht es ausdrücklich um die Darstellung seiner subjektiven Betrachterhaltung, um die Betrachtung von Kunst durch den Künstler, um die Betrachtung als solche und damit um das generelle, auf visuelle Erfahrbarkeit aufgebaute Verhältnis des Menschen zu den Dingen. Insofern bringt sein persönlicher, in gezeichnete Form gekleideter Kommentar zur Moderne gewisse Erkenntnisqualitäten, die weit über die konkrete Darstellung hinausreichen und den Vorgang der Betrachtung zu einem bewussten Erlebnis werden lassen.

 

 

|||