Thomas Sternberg

Der geschärfte Blick

Zu Matthias Beckmanns Zeichnungszyklus „Kirchen“

 

„Tuschefluss“, so lautete der Titel einer der früheren Ausstellungen mit Zeichnungen von Matthias Beckmann (1998).  Zu sehen waren verrätselte, skurril-surreale Zeichnungen, deren Figurationen aus ununterbrochenen, sehr reinen und klaren Linien aufgebaut sind. Der Effekt ergibt sich in den häufigen Wiederholungen und Variationen aus Formähnlichkeiten, assoziativen Analogien, an Traumbilder erinnernden Verfremdungen. Die Einzelbilder weiten sich - so in der Zeichenserie „Der Bleistift auf dem Tisch“ (2000) - zu Bildfolgen, die abseits vom Comic, eine Geschichte erzählen, die an die beste Cartoonisten-Tradition anknüpft. Sie zielen allerdings nur selten auf eine bestimmte Pointe. Sind aus den neunziger Jahren in Serien von Aquarellen und farbigen Zeichnungen die Köpervolumen sorgfältig durchgearbeitet, konzentrieren sich die späteren Zeichnungen auf Umrisslinien, sparsamste Binnenzeichnung und gelegentliche Schraffuren. In den letzten Jahren entstanden davon deutlich unterschiedene Arbeiten: In Paris hatte er in seinem Skizzenbuch Beobachtungen im Museum zusammengestellt, die das Verhältnis von Person im Raum, Kunstobjekt und Betrachter reflektierten. Auf die Frage, warum Beckmann die surreal-absurden Phantasien zugunsten seiner Raum- und Situationsstudien aufgegeben hat, weist er auf die Gefahr der Leichtigkeit des Umgangs mit einer einmal gefundenen Methode des „Surrealisierens“ hin, die zu einer beliebig erweiterbaren Masche werden könne. Kein ungewohnter Gedanke: ein Künstler stellt sich gerade dann, wenn er eine Aufgabe perfekt beherrscht, einer neuen Herausforderung.

Aus dem Leporello aus Paris ergaben sich weitere, ähnliche Skizzenbücher: im Kunstmuseum Bonn, im Bilderbuchmuseum Burg Wissem, im Graphikmuseum Pablo Picasso Münster und neuerdings im Deutschen Bundestag Berlin. Die Linie ist, dem Arbeiten vor Ort und dem Charakter der Freihandzeichnung entsprechend, unruhiger, trotzdem von einer wunderbaren Klarheit und Sicherheit, die eine lange, intensive Studienarbeit in diesem Genre verrät. Denn Beckmann hatte sich, gegen alle Trends, schon in den Studienjahren bei Franz Eggenschwiler in Düsseldorf und Rudolf Schoofs in Stuttgart mit der gegenständlichen Zeichnung befasst. Der Bleistift erfasst in wenigen, durchlaufend geführten Linien das Gesehene in Volumen und Umriss. Die Strenge in den früheren Körperdarstellungen führt zu einer äußersten Reduktion der graphischen Mittel auch in der Wiedergabe differenzierter Objekte, wie der legeren Kleidung der Museumsbesucher. Die Sicherheit der Raumperspektiven ist bewundernswert. Die Linie wird ohne jede Korrektur ruhig geführt.

In der Entwicklung der Zeichnungen wird Stringenz deutlich. Auffallend sind die Wahrnehmung von Elementen, die beiläufig, unbedeutend sind: der Klappstuhl für die Museumswärter, ein Schatten, eine ungewöhnliche Formanalogie. Wie in den Bildgeschichten findet man Zyklen im Umkreisen eines Objektes, das von verschiedenen Positionen aus in den zeichnerischen Blick genommen wird. Formale Reize und Analogien sind ebenso wichtig wie die Kunstobjekte. Die Gleichrangigkeit der Gegenstände in ihrer formalen und optischen Präsenz wird im zeichnerischen Nebeneinander deutlich. Die Auswahl der Motive, die Perspektiven, die Ausschnitte und die Zusammenstellungen erinnern an Fotografie, obwohl alle Zeichnungen am Objekt und ohne fotografischen Zwischenschritt entstanden sind. Der Zeichner sieht wie durch das Okular einer Kamera auf Gegenstände, Menschen und Räume. Durch den Zwang zur Genauigkeit entstehen dabei Untersichten, Kombinationen, Ausschnitte, die alle Subjektivität zurückzudrängen und die optischen Erscheinung ohne Wertung präsentieren. Und dies in einem Medium, das wie die Schrift zu dem subjektivsten aller Gestaltungsmittel gehört.

Auf die Idee, sich mit Kirchenräumen zu befassen, kam der aus einer katholischen Familie stammende Beckmann als er die Zusage für die hier dokumentierte Ausstellung von der Deutschen Gesellschaft für Christliche Kunst bekam. Die Fülle an hervorragenden, mittelalterlichen Kirchenräumen in Köln führte zu der Beschäftigung mit den romanischen Kirchen dort. In einem deutlich größeren Format zeichnete Beckmann Architekturen, Gegenstände, Einrichtungen. Menschen tauchen nur in der zum Museum umgewidmeten Kirche St. Cäcilien auf. In den Kirchen interessiert ihn nicht die Beziehung der Beter zum Raum, der Besucher zum Touristenobjekt. Sein Zyklus ist eine Sehschule für die ästhetischen Widerfahrnisse, die sich einem sachlich, auf die formalen Elemente gerichteten Blick zwischen Erhabenheit und Banalität bieten. Die Bilder der Ausstellung - und dieses Katalogs - sind keineswegs willkürlich zusammengestellt: es ergibt sich eine Binnenerzählung in der Abfolge von Geschichten, in Zusammenstellungen und Kontrasten, die an die früheren Bildfolgen und Kombinationen erinnern.

In St. Aposteln (S. 12 f.) zeigt er, wie die allzu imposante Inszenierung der Lichterkrone mit einer „eucharistischen Taube“ aus den siebziger Jahren und die schwellenden Volumen von Leuchtern, Ambo und Altar durch das Verbotsschild „Altarraum bitte nicht betreten“ kontrastiert wird. Und die hohen Wächter stehen über der barocken Pieta (S. 14 f.), die mit dem technoiden Kerzenständer eine Antwort auf die Muttergottes mit Kind hinter dem Gitter zu sein scheint. Erst die Zeichnung schärft den Blick auf die Gleichrangigkeit der optischen Elemente, zu denen auch die Angabe „O,30 €“  gehört. In St. Kunibert (S. 16 f.) scheinen ihn vor allem die Analogien von der Rechtwinkligkeit der Liederbücher und der Wandgliederung im Kontrast zu den barocken Sockeln zu interessieren, die einen formalen Reiz ergeben. In St. Cäcilien/Schnütgen-Museum (S. 24 - 29) werden wieder Menschen sichtbar, hier erzählt uns der Zeichner die Geschichte einer Kunstwahrnehmung: Zunächst dominiert ein leerer Plexiglas-Stahl-Klappstuhl und ein Handlauf vor sitzenden Madonnen, dann der Blick durch den Raum auf einen mittelalterlichen Palmesel, jene Figur des auf einem Esel nach Jerusalem einziehenden Christus, die in Palmsonntags-Prozessionen mitgeführt wurde. Wie in einer kleinen Filmsequenz wird das ungewöhnliche Objekt umkreist, frontal, halbseitlich, offensichtlich von der im ersten Bild zu sehenden Brüstung aus in Aufsicht gesehen und, wie mit einem Objektiv gezoomt, ein Detail in der Kombination von Fuß, Huf und Rad. Die Kirche Maria-Lyskirchen (S. 30 f.), die einzige Pfarrkirche unter den romanischen Bauten, wird mit der großen ÑSchiffermadonnaì gezeigt, Fresko, Skulptur, Kerzenleuchter und Ampel verschmelzen zu einer dekonstruktiven Formenfülle, die in Linien gebändigt wird. In St. Severin (S. 38 f.) eine ironische Bemerkung: zwei Hilfsapparaturen: der Behindertenaufzug und der aufwändige Betschemel vor der Absperrung werden gegenübergestellt. In der ältesten, ehrwürdigen und problematisch restaurierten Kirche Maria im Kapitol (S. 40 - 45) treten die Säulenbasen in Krypta und Trikonchos in einen Dialog und ein meisterliches Blumenstück kontrastiert mit der Geometrie des Bodenbelags und dem spiegelnden Alarmwarnungsschild. In der prächtigen früheren Klosterkirche Grofl St. Martin (S. 46 - 49) werden Galerien, Fensterformen und einzelne Skulpturen erfasst. Der Gang um eine Kreuzigungsgruppe wird angedeutet, wobei durch bloße Umrisszeichnung der Umgebung der konzentrierte Aufblick zu der trauernden Maria betont wird. Und in St. Georg (S. 50 f.) wird Sitzen und Stehen zum Thema mit der genauen Aufnahme der banalen Hocker. In St. Ursula (S. 52 ñ 55) ein ironischer Kommentar: vor dem grimmigen Löwen der Säulenbasis scheinen sich die Jungfrauen unter den Schutzmantel ihrer Patronin geflüchtet zu haben. Heiltümer in Form von Reliquienhäuptern und das mittels eines Krans abzuzapfende Mitnahmeheiltum beschließen die Geschichten der Kirchen. Das mit seinen Schatten gezeichnete Weihwasserfass steht wie ein surrealer Engel am Schluss.

Das alles ist eine vergnügliche Geschichte aus Assoziationen und Kombinationen, die der Künstler vorgibt und dem Betrachter zur eigenen Ergänzung anbietet. Darüber hinaus ist es ein beeindruckendes Dokument zeichnerischer Qualität, die deutlich macht, dass über die ruhig aufbauende Hand eines Betrachters in der Zeichnung mehr zu finden ist als in der Momentaufnahme der Fotografie. Auch in der möglichst genauen Erfassung ergibt sich ein deutliches Mehr an Information und Erkenntnis über nicht museale, sondern nach wie vor genutzte Räume, die man vielleicht schon oft gesehen haben mag, die doch in ihrer ganz eigenen Stimmung und Ästhetik deutlich werden. Kirchen werden gezeigt nicht als hieratische, nur der Ansicht gewidmete Tempel, sondern als die Versammlungs- und Gebetsorte der Christen. Ohne dass Menschen zu sehen sind, spiegeln alle Elemente ihre frühere und gegenwärtige Anwesenheit. Und so ist hier ein Führer zu den romanischen Kirchen Kölns entstanden, der unter den vielen anderen, die eine ganze Typologie von Kirchenführern darstellen, eine eigene Farbe beisteuert. Die aktuelle Lebendigkeit der Räume wird in der Zusammenstellung von originaler Bausubstanz, Ausstattung und Ergänzungen der 50er, 60er und 70er Jahre aufgegriffen. Der Künstler hat eine Freude an der Mischung aus heiligem Ort und alltäglichem Leben. Alles ist wichtig und bekommt die gleiche Aufmerksamkeit.

Matthias Beckmann zeigt die Welt, wie sie sich seinem Blick und seinem Interesse an graphischen und formalen Elementen und Analogien bietet. Mit Humor, Einfühlsamkeit, Neugier und Genauigkeit sind seine Zeichnungen Verknappungen, Verdichtungen visueller Erfahrungen, die sich nur auf den ersten Blick schlicht präsentieren. Sie sind Angebote, die Rätsel aufzunehmen, die Assoziationen nachzuempfinden, neue Analogien aufzuspüren. Für denjenigen, der es mit Kirchenräumen zu tun hat, zeigt der unverstellte, die Formen ganz gleich behandelnde, nicht nach den Kategorien der Bedeutung sogleich aussortierende Blick auch, welche ästhetischen Zumutungen viele unserer Kirchenräume bereithalten. Wie sehen unsere Kirchen aus? Die Zeichnungen sind ein Plädoyer gegen das Übersehen. Die skurille Ästhetik des Weihwasserbehälters (S. 7) auf dem Hocker mit seinen geschweiften Füßen mögen den Blick schärfen für die Ausstattung des Kirchenraums, für die Kontraste aus der Sprache des Erhabenen und der Banalität des Praktischen und auch für das, was diese wunderbaren Räume nach wie vor ‚sagen’ können.

Münster, 3. Juli 2004                                                                                               

 

 

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