Suresh Jayaram


Wie man in Bangalore eine Straße überquert

Matthias Beckmann ist im Herbst 2022 unser Gast aus Berlin, der in
1Shanthiroad lebt und arbeitet. Wenn er mit seiner Tasche und dem kleinen Hocker durch die Straßen geht, wird er von Kindern und neugierigen Schaulustigen umlagert. Die erste Frage dieser Menschen lautet: “Was macht dieser Mann da?”, und dann beschließen sie, ihm über die Schulter zu schauen und zu sehen, wie
er die Realität mit schnellem Strich und einem Hauch von Aquarellfarbe festhält. Das Bild erscheint wie von Zauberhand auf dem Papier, Radiergummi oder Lineal benötigt er nicht. Seine Bildsprache ist direkt, und er versucht, einen Sinn zu entdecken im Chaos dieser Stadt, das noch unterstrichen wird von der Ruhe eines Winkels oder einer Ecke, die unserem Auge bisher entgangen sind.

Beckmann ist ruhig und aufmerksam, ihm entgeht nichts, er ist immer in Bewegung, um dann innezuhalten und mit der Arbeit zu beginnen. In einer
neuen, fremden Stadt hat er sich Zeit genommen, um sich in ihren Rhythmus zu versenken. Alles sieht spannend aus, aber einige Szenen des Alltagslebens scheinen ihn besonders anzuziehen. Er beschließt, sich an eine Straßenecke zu setzen und in einer Bildkomposition die Realität um ihn herum einzufangen, die uns vertraut ist, aber der deutschen Lebensweise, die man gemeinhin präzise, systematisch und geordnet nennt, seltsam fremd erscheinen muss.

Er konzentriert sich auf die neue Stadt, die allen Widrigkeiten zum Trotz funktioniert, er scheint, ihren Puls zu fühlen und einen inneren Plan zu entdecken im Wahnsinn des stockenden Verkehrs und der hupenden Fahrzeuge im Stau, im multikulturellen und kosmopolitischen, sozialen und kulturellen Kontext einer pulsierenden Metropole - Bengaluru.

Beckmann spricht durch seine Werke. Er schaut einfach hin, und er hat Auge und Geist darin geschult, zu beobachten und wiederzugeben, was er sieht. In diesem Prozess des dokumentarischen Zeichnens von Gegenständen, Straßenleben und Architektur, das so alt wie neu ist, hat er sich entschieden, über den kolonialen Blick hinaus zu gehen, der Postkartenansicht produziert und auf das Offensichtliche ausgerichtet ist. Seine grafische Fähigkeit zielt nicht auf einen Hyperrealismus wie bei der fotografischen Dokumentation, sondern auf die sorgfältige Erfassung von Details, um die Essenz und die Aura eines Ortes einzufangen, und sein neugieriger Blick weicht dem zufälligen Ausschnitt des Lebens nicht aus, der an uns vorüberzieht ehe wir ihn bemerkt haben.

Beckmann sammelt diese visuellen Bilder wie ein Flaneur, der durch das Zentrum von Bangalore und speziell den Stadtteil Shanthinagar wandert und die Vielfalt der multikulturellen Gesellschaft dieses gemischten Viertels in sich aufnimmt, in dem Arme, Mittelschicht, Reiche, Einheimische und Migranten Seite an Seite leben. Der Kontrakt mit der Realität ist sichtbar und erzählt von einer kosmopolitischen Nachbarschaft mit einer großen Vielfalt von Kasten, Gemeinschaften und Klassen. So sieht man Bilder von einem Hindu- und einem Jain-Tempel, einer muslimischen Moschee und einem Bildstock der Mutter Maria in einem blauen Sari mit dem Jesuskind. Seine Vorliebe für lebendige Orten wie den KR Flower Market oder den charakteristischen Johnson Meat Market mit den Gerüchen von Lebensmitteln, Gewürzen, Blumen, Fleisch und Gemüse ist offensichtlich. Er amüsiert sich über die allgegenwärtigen Kühe, die den Verkehr aufhalten, und die Straßenhunde, die es im Überfluss gibt.

Seine Arbeiten sind weitaus mehr als reine Dokumentationen, wenn er mit präzisen Linien die Umrisse seiner Motive nachzeichnet und mit Aquarellfarbe
ein bestimmtes Detail hervorhebt, um die Atmosphäre des Ortes und der Zeit einzufangen. Die unmittelbare Beobachtung ist grundlegend für das Zeichnen nach der Natur, und Beckmann erschafft mit Geduld und Geschick ein beständiges Werk, das uns die Zeichnung als eine Art des Denkens, Sehens und Erinnerns erkennen lässt. Mit dieser Werkserie wurde Beckmann von den Einheimischen mit großer Gastfreundschaft empfangen. Er wurde mit Obst, Kaffee und Gesprächen über eine städtische Kultur beschenkt, die sich in ständigem Wandel und Konflikt befindet. Diese Zeichnungen haben ihn innehalten lassen und schaffen Erinnerungen, die in seinem Werk und in unseren Köpfen bleiben.

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