Sabine Maria Schmidt

Am Tatort zeichnen

 

Tatortzeichnungen sind Zeichnungen, die versuchen, die genaue Position aller vorgefundenen Gegenstände am Ort eines Verbrechens zu sichern. Um die Jahrhundertwende war diese Methode der polizeilichen Ermittlung noch von einer Nähe zu bürgerlich-künstlerischen Bildvorstellungen geprägt, die zu höchst ästhetischen und detailreichen Zeichnungen führte, Meist störte lediglich die Markierung der Leichenposition die kompositorische Harmonie eines Bildes, die auch als Interieurdarstellung gelesen werden konnte. Heutige Zeichnungen dieses Typus erscheinen wesentlich nüchterner. Hier geht es vor allem um eine zentimetergenaue Abmessung der Abstände zwischen wichtigen Fundstücken, aber auch vollkommen nebensächlich erscheinenden Details. Es entstehen komplexe, meist abstrakte Liniengeflechte, die den neutralen Raum als Raum von Übertretungen markieren.

Matthias Beckmanns Zeichnungen widmen sich nun keinen Verbrechen, sondern Aufbauten künstlerischer Installationen und Feierlichkeiten wie dem Liborifest zu Paderborn. Verglichen werden sollen die extremen Liniengeflechte, die allerdings aus einer gegenteiligen Tendenz entstehen. Nicht die präzisen Abstände, die perspektivisch bzw. fotografisch genau erfasste Räumlichkeit interessieren den Künstler, sondern vielmehr die auf beobachtenden Streifzügen erfasste Bildlichkeit und Zufälligkeit dinglicher Konstellationen. Nicht ein fixierter Ort wird detailgetreu rekonstruiert, vielmehr wird das temporäre Ereignis als Verbund von Gegenständen und Personen erst zu einem Ort, zudem in schnellem Duktus erfasst, fotografischen Schnappschüssen gleich.

Anders als die Tatortzeichnung, die auf ein zentrales Geschehen und damit auf ein zentrales Thema ausgerichtet ist, entspricht die Motivwahl der Zeichnungen Beckmanns der eines Passanten bzw. Flaneurs, die keiner Form-, Themen- oder Bedeutungshierarchie unterliegt.

Verzerrt, aber umso interessanter, erscheint die Welt in diesen Zeichnungen vielfach anders als in einer objektiven Temperamentlosigkeit der Fotografie. Das Auge des Künstlers rückt einige der beobachteten Szenen ins Karikatureske („Canossa. Erschütterung der Welt“), Gegenstände scheinen sich zu verselbständigen und lebendig zu werden (Karussell, Muttergottes mit Jesuskind-Skulpturen). Die Unterscheidbarkeit von Abbild und Abzubildendem gerät besonders da ins Wanken, wo Kunstwerke und Reproduktionen zeichnerisch reproduziert werden, wo sich Kunst bis zur Nichtunterscheidbarkeit mit technischem Gerät vermengt. In den jüngeren Zeichnungen rückt zudem der Text als Element immer stärker in die Komposition ein. Gezeichnete Banner mit der Inschrift „Zeige draußen, was Du drinnen glaubst“ sind unterlegt von der Budenwerbung „Knabberhäuschen“, die gebrannte Mandeln und Nüsse anpreist. Das macht die Blätter erzählerisch, ja fast gesprächig.

Matthias Beckmann zählt zu den Künstlern, die sich vorrangig als Zeichner positionieren und dabei die Umrisszeichnung als Medium der Dokumentation wieder entdeckt haben. In seinen Serien wird deutlich, dass er sich sowohl im Medium der klassischen Handzeichnung wohlfühlt (Flaxman, Ingres, Picasso) als auch ihre Verwendung als Gebrauchsform (Buchillustration, Comic, Pressezeichnung, Gerichtszeichnung, Wegbeschreibung, technische Zeichnung, Storyboard-Zeichnung u.a.) zu nutzen weiß. Ergebnis ist ein vielschichtiger, nicht dogmatischer Zeichenstil, der die fließende Linie ebenso zu zelebrieren weiß, wie einen kleinteiligeren, bisweilen fast zittrigen Duktus. Auch nutzt Beckmann filmische und fotografische Elemente, die in die Komposition und Auswahl seiner Serien einfließen, dazu gehören das Zoomen zwischen Totale und Detail, der Eindruck von Tiefenschärfe, die an Stills aus Kamerafahrten erinnernde Auswahl einiger fast impressionistisch erfasster Momente.

Beckmann vertraut der kleinformatigen, intimen Zeichnung, fügt seine Beobachtungen nicht zu montierten Synthesen zusammen. Ihn interessiert keine historische, politische oder analytische Darstellung (wie z.B. Andreas Siekmann, Alexander Roob, Korpys/Löffler, Dierk Schmidt oder Jürgen Stollhans). Vielmehr bleibt er als beobachtender Chronist einer klassischeren Genre-Darstellung treu, die ihr Spannungsfeld in den skurrilen Zusammentreffen von Aura und Alltag erhält. Sie wird zugleich mit der Tradition der journalistischen Zeichnung verknüpft (vgl. z.B. Künstler wie der spanische Zeichner Carlos Sáenz de Tejada oder der deutsche Karl Hubbuch) und findet ihren konzeptuellen Ausgangspunkt in der akademischen Tradition des Zeichnens von Kunstwerken. Zeichnung ist hier nicht nur Instrument, sondern auch Ziel.

Die Stadt Paderborn als „Tatort“ erscheint in Beckmanns Blättern als ein funktional und symbolisch herausgehobener Ort, an dem die Widersprüche zwischen Repräsentation und Vermarktung rückhaltlos aufeinander treffen.

 

Vgl. Clemens Krümmel zu Tatjana Bergius, in: Tauchfahrten. Zeichnung als Reportage, Kunsthalle Düsseldorf u.a. 2005, S. 94.

Die bei Museumsbesuchern beliebte Sitte, Schnappschüsse per Fotoapparat vor einem ausgewählten Kunstwerk zu machen, wurde Ausgangspunkt seiner Museumszeichnungen, die er nachfolgend in Häusern wie dem van der Heydt-Museum, Wuppertal, dem Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg, dem S.M.A.K. in Gent, den romanischen Kirchen in Köln und anderen beständig weiterentwickelte.

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