Reinhard Ermen
Wechselströme
Beckmann zeichnet Hauser
„Beschreibung – Die allervertrautesten Anblicke sind die seltsamsten, wenn man
sich seinen Augen überlässt – seinen Augen allein. Was das Auge einzig sieht,
seltsam und einmalig, das macht der Geist also zum Normalen und Geläufigen
– das heißt halb unsichtbar.
Was das Auge sieht, ist in gewissem Sinne unendlich besonders.“ (1)
Unabhängig davon, ob er geladen wird oder von selbst kommt: Es ist nicht das
erste Mal, dass Matthias Beckmann eine Institution der Kunst aufsucht, um dort
zu zeichnen. Die Kunstwelt zieht ihn naturgemäß magisch in ihren Bann, obwohl
er auf solche immanenten Kreisläufe nicht angewiesen ist. Das vietnamesische
Leben in Berlin-Lichtenberg, der Deutsche Bundestag, ein Krankenhaus oder
die Komische Oper Berlin regen seine Neugierde mindestens genauso an wie
die Berliner Ateliers von insgesamt 88 Künstlerkolleginnen und -kollegen, das
Hessische Landesmuseum in Darmstadt vor dem großen Umbau oder der
Einzug der Alten Meister der Sammlung Würth in die Johanniterhalle in
Schwäbisch Hall nach dem Umbau. Die Liste ließe sich noch beträchtlich
verlängern, doch wie ein Künstler die andere Kunst und ihre Umgebungen
betrachtet, erscheint besonders reizvoll, entscheidend ist freilich etwas anderes.
Matthias Beckmann braucht anscheinend eine Umgebung, die ihn fesselt, bzw.
herausfordert, denn er zeichnet grundsätzlich vor Ort. Seine gelegentlich
ziemlich komplexen Aufzeichnungen sind nur im Angesicht des Geschehens
möglich. Er braucht deshalb keine Übersetzungs- oder Erinnerungshilfen,
keinen Fotoapparat, es gibt auch keine Skizzen, alles geschieht mehr oder
weniger im Augenblick der Wahrnehmung. Das ‚Phänomen Beckmann‘, wenn
so eine Stilisierung gestattet ist, erscheint nur denkbar mit dem Zeichner, der in
das aufgeschlagene Buch, in den Block auf seinen Knien einträgt, was er sieht;
so jedenfalls zeigt ihn der Fotograf Klaus Mellenthin, als Beckmann 2012 im
Abendschau-Studio von rbb Aktuell die Arbeit des Rundfunksenders beobachtete
(2).
Was macht er eigentlich genau? Die Aussage: Er zeichnet, wäre zu einfach.
Sicher, er hält fest, was er sieht, in faszinierend genauen Notaten, denen ein
hoher Wiedererkennungswert eignet, im doppelten Sinne: Die Orte und
Situationen, Zitate und Gebäude sind auszumachen. Was da zu sehen ist,
erscheint in einer verblüffenden Plausibilität, ist in einem durchaus fotografischen
Sinn abgegriffen. Wiedererkennbar ist gleichzeitig Beckmanns Handschrift, und
die charakterisiert sich in einer durchaus gleichmäßigen Lineatur, die ihre
Gegenstände konsequent in Umrisslinien und Binnenstrukturen auflöst. Die
Systematik erscheint wie angeboren; wie bei einem Synästhetiker, der bei
bestimmten Tönen und Harmonien seine Farben sieht, setzt Beckmann seine
Übertragungen bzw. Entsprechungen in das weiße Niemandsland des Blattes.
Immer aus der freien Hand, mit einer beneidenswerten Sicherheit, ohne dass
Lineale und Ähnliches im Spiele wären. Alles, was für die Reportage gebraucht
wird, hält er fest, es mag möglich sein, dass er mal (intuitiv) was weglässt, aber
die skelettartige Illusion funktioniert. Das Gesehene wird sozusagen durch ein
Sieb geschlagen, und übrig bleibt ein lineares Netz, in dem die Grundwerte
von etwas Realem, oder was man dafür halten mag, eingefangen sind. Beckmann
zeichnet die Verhältnisse am Ort des Geschehens auf, die Raumtiefe, die
Charakteristika der Gegenstände, wie Maserungen des Holzes, Muster, Tapeten,
wenn’s sein muss auch Verpackungen, Elektrokabel oder Bohrmaschinen,
selbst die dort agierenden Menschen sind erfasst. Sie gehören zum lebenden
Inventar, das in die Stille der Zeichnung eingeweckt ist. Zum Besonderen dessen
(siehe ganz oben das Motto von Paul Valéry), „was das Auge sieht“, gehört
auch diese Ruhe, beim Filtern sind eben einzig und allein die linearen Appelle
an die Augen übrig geblieben.
Wenn Beckmann bei Hauser zeichnet, entsteht natürlich Kunst über Kunst.
Ein Zeichner und ein Bildhauer sind seit jeher wahlverwandte Wesen. Immer
wieder ragen also die spitzen, gelegentlich bizarren Faltungen des Genius Loci
in die Szenarien des Zeichners. Hausers Arbeit bewahrt auch in der
Grundsätzlichkeit der Umrisse eine unverwechselbare Statur. Im
neutralisierenden Feld der Zeichnung treten konkurrierende Objekte
möglicherweise etwas selbstbewusster neben die Artefakte, ein zugeklappter
Sonnenschirm etwa, ein Gabelstapler oder eine Yuccapalme. Ohnehin ist
Beckmann keiner, der sich auf die edlen Werke selbst beschränkt, er liebt die
ironischen Sammelsurien, in denen Beiläufiges und Bedeutendes
zusammenkommen. Ohnehin etabliert er die Örtlichkeit zuerst mit der Anfahrt,
bzw. es gibt im Nacheinander der Präsentation, etwa im Katalog, eine Art
Showopener (wie im Film), in dem Hausers Zylinder-Zickzack am Wegrand erst
beim zweiten Blick bemerkt wird, so dominant haben sich die drei Werbetafeln am
Lampenmast in den Vordergrund geschoben. Außerdem riskiert Beckmann immer
mal wieder einen Blick ins Werkverzeichnis von Erich Hauser (1930 bis 2004) oder
in die Kataloge und dann über den Rand hinweg, vom Reproduzierten ins
Selbstgesehene.
Der Künstler spielt mit den Ebenen der Wahrnehmung. Die Hand des
Zeichners ist auch zu sehen oder dessen Beine, während der ganze Rest einem
Bozzetto des Bildhauers zugewandt ist. Der Zeichner drängt sich nicht ins Bild,
er ist einfach da und Hausers Nachlass ist in der Stiftung nicht allein, seine
beträchtliche Kunstsammlung wird gleichsam im Vorbeigehen mitgenommen,
Einzelstücke treten heraus, nicht nur von den Kunststücken. Die fast schon
monumentale Einzelaufnahme mit dem Selbstgebrannten des Hausherrn,
die kleine Flasche mit einem Mal so riesengroß – das lässt tief blicken. Die
Fastnachtsmasken passen zu dieser Lebenslust. Gäste, nicht nur die Besucher,
gehören zur Institution der Kunststiftung. Mit schöner Regelmäßigkeit finden
einzelne der Ars-nova-Konzerte des SWR2 statt. Am 23. Mai 2014 spielte das
„Ensemble Aventure“ Kompositionen von Borowski, Wozny, Corbett, Cattaneo
und Beckert. Der Chronist hat Kesselpauken, Ü-Wagen und Musiker festgehalten.
Und immer wieder ist da dieser Hund, der Rottweiler, eine multiple
Plastik von Ottmar Hörl. 2005, nicht ganz zehn Jahre vor Beckmann, war dieser
skulpturale Vervielfältigungsmeister da (3). Einige der insgesamt 500 Hunde aus
Kunststoff sind geblieben.
Nochmals, das Phänomen Beckmann, nochmals die Wiedererkennbarkeit,
ja warum nicht: Die ‚Marke Beckmann‘, um es ganz bewusst überspitzt zu
sagen. Die quasi selbstreferenzielle Kraft einer linearen Synästhesie bringt ein
erstaunliches Maß an Versachlichung mit sich. Das ist fast schon eine Ästhetik
des Automatismus. In den Texten über Beckmann ist gelegentlich auch von einer
Art Demokratisierung der Wahrnehmung die Rede, da es bei ihm keine linearen
und ikonografischen Hierarchien gibt. Alles erscheint gleichermaßen bildwürdig,
selbst die Menschen sind mit einem Mal nur noch Figuren, und die Figuren
werden behandelt wie alle anderen Dinge auch. Nur im Ausschnitt gibt es
Zentrierungen oder Hervorhebungen. Das sind Sucherbilder; was Beckmann
sieht, kommt letztlich ins Bild. Ausnahmen bestätigen die Regel, Beckmann
ist schließlich keine Maschine. Aber die Zeichnung ist bei ihm letztlich eine
Funktion des Sehens, und das kann bis zur abstrakt anmutenden Hyperlinearität
gehen. In gewisser Weise herrscht ein gnadenloser Durchblick, eine
nackte Lineatur hat das Sagen. Idyllen sind das nicht unbedingt, auch wenn
diese Blätter das Entzücken von Kennern und Laien in gleicher Weise
heraufbeschwören können. Der gleichmäßige Strich ist ein Charakteristikum von
Beckmanns Objektivierungslust.
Eine Reprotechnik, die so etwas als Strichvorlagen behandelt, muss hier freilich
kapitulieren. Beckmanns Linien wachsen beim Sehen, aber sie kokettieren nicht
mit ihrer eigenen Sensibilität, sie sind Teil einer Funktionsidentität. Die Tatsache,
dass er meistens einen genormten Träger, also das Format DIN A4 verwendet, ist
ein Teil davon. Partiell könnte das auch eine Versuchsanordnung sein. Eine
Institution setzt sich dem Wahrnehmungssystem des Matthias Beckmann aus
und bekommt schwarz auf weiß, was er gesehen hat. Er liefert eine lineare
Analyse vom „Tatort“ (4), und das ist eben der Schauplatz des Geschehens, wo
die anderen Künste und der gleichlaufende Alltag stattfinden, und wo der Zeichner
selber zum Täter wird.
„Die Sprache ermöglicht uns, nicht hinschauen zu müssen.“ (5) Das wäre im
spekulativen Entweder-oder Paul Valérys das Gegenteil von Sehen, das Sprechen.
Natürlich muss das eine nicht die ausschließende Alternative des anderen sein,
aber „Zeichnen ist eine andere Art von Sprache “ (6), und tatsächlich geschieht
hier etwas, das sich dem standardisierten Diskurs weitgehend entzieht. Auch
diese Zeilen tragen dem Rechnung; der Versuch, die Arbeit der Betrachter zu
unterstützen, gelangt nämlich irgendwann an den Punkt, an dem nur noch das
Sehen weiterhilft. Matthias Beckmann transformiert seine Ansichten in sein
spezielles Medium, das primär für die Augen da sein will. Vieles von dem, was
gelegentlich so erscheint wie eine Reportage, prallt an dieser Metamorphose
ab. Wie abbildähnlich die Szenarien auch angelegt sind (das liegt in der Natur
der Sache), so haben sie sich im Alleingang des Zeichners autonomisiert. In
der dünnen Luft dieser kristallenen Lineaturen verlieren sich die Geschichten
und ihre Vorlagen. Alles ist zuallererst Zeichnung, im massenhaften Auftritt
der Einzelblätter geht es dann nur noch um Durchsichtigkeit und Dichte, um
Fülle und Leere, um Ornament und Sein; als Exempel eines Sehenden.
(1) Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers, ausgewählt und mit einem Essay von Thomas Stölzel, Frankfurt am Main 2011, S. 239
(2) Zu sehen in der Folge VII meiner Dokumentation „Zeichnen zur Zeit“ im Kunstforum International, Band 231 (Februar – März 2015), S. 166
(3) Der Hund ist noch lieferbar, unsigniert 400, signiert 800 Euro, siehe: www.ottmar-hoerl.de (Stand: 20.05.2015)
(4) Andreas Schalhorn hat mit dem sinnfälligen Stichwort seinen Katalogtext über das Projekt von Matthias Beckmann über die Berliner Ateliers überschrieben; vgl. Matthias Beckmann. Berliner Ateliers, Ausstellungskatalog, hrsg. von Jörg vanden Berg, Berlin 2012, S. 374ff.
(5) Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers, ausgewählt und mit einem Essay von Thomas Stölzel, Frankfurt am Main 2011, S. 240
(6) So war die deutsche Präsentation der amerikanischen Privatsammlung
Werner Kramarskys überschrieben, die u.a. in Winterthur, Aalen und Berlin zusehen war; vgl. „Zeichnen ist eine andere Art von Sprache“. Neuere amerikanische Zeichnungen aus einer New Yorker Privatsammlung, Katalog, hrsg. von Dieter Schwarz, Stuttgart 1997