Reinhard Buskies

Aura und Alltag

Matthias Beckmanns zeichnerische Annäherung

an das Haus Kemnade in Bochum

 

Zeichnen als Reflexion des Museums

Das Museum ist der Ort des Besonderen. In der griechischen Antike bezeichnet der Begriff museion einen den Musen gewidmeten Hain oder Tempelbereich, einen dem alltäglichen Leben enthobenen Ort. Mit den höfischen Kunst- und Wunder­kammern entstehen in der frühen Neuzeit Vorläufer des modernen Museums, auf Universalität gerichtete Sammlungen, die Kunstobjekte ebenso enthalten wie Kuriositäten aller Art. Auch das spezialisierte Museum unserer Zeit definiert sich und seine Aufgabe über Wert und Bedeutung dessen, was es beherbergt.

Das Museum ist, jenseits der zielgerichteten Wahrnehmung seiner Besucher, auch der Ort des Gewöhnlichen. Es unterscheidet sich in vielen Dingen nicht von unserer alltäglichen Lebenswelt. Der Klappstuhl des Aufsichts­personals ent­spricht dem praktischen Ikea-Modell in meiner Küche, die schlichte Vitrine aus Stahl und Glas könnte uns auch in einem Fotofachgeschäft begegnen und der kurz vor Öffnung der Ausstellungsräume noch an der Wand lehnende Wischmob verweist auf profane Reinigungsaufgaben.

Die Grenzlinie zwischen dem Besonderen und dem Gewöhnlichen, zwischen Be­deutendem und vermeintlich Unbedeutendem, ist indes nicht leicht zu ziehen. Die Kategorie des Bedeutsamen, wie sie für Kunstwerke a priori Gültigkeit beansprucht, ist auch den alltäglichen Gegenständen nicht abzusprechen. Die Dinge weisen über sich und ihre Alltagsfunktion hinaus, sind Zeugen ihrer und unserer Ge­schichte, die immer auch eine Ideengeschichte ist. Jedes Museum, vom Kunstmuseum über das Kunstgewerbemuseum bis zur volkskundlichen Sammlung, legt hiervon Zeugnis ab.

Innerhalb der Kunstwelt verschieben sich die Grenzen unwiderruflich, als Marcel Duchamp im Jahr 1917 ein handelsübliches Urinal mit dem Pseudonym R. Mutt signiert und unter dem Titel Fountain zum Kunstobjekt erklärt. Die Ready-Mades Duchamps, jene zur Kunst erhobenen Alltagsgegenstände, deren anfänglich skandal­begleitete Ab­lehnung längst einer musealen Akzeptanz gewichen ist, führen uns vor Augen, dass die Dinge nicht nur das sind, was sie sind, sondern mehr noch das, was wir in ihnen sehen.

Der Berliner Zeichner Matthias Beckmann hat sich die Ambivalenz musealer Situationen zum Thema gewählt. In diversen Werkgruppen untersucht er die Durchdringung von Aura und Alltag, das Zusammen­treffen von musealer Weihe und den improvisierten Zufällig­keiten des Ausstellungsbetriebes. Und in einer der zahlreichen von Beckmann gezeichneten Ausstellungssituationen (Centre Pompidou, Paris, 2002) treffen wir erwartungsgemäß auf Duchamps Fountain, als kostbare Reliquie der Moderne hinter schützendem Glas präsentiert.

 

Die Zeichenserie zum Haus Kemnade

Im Sommer 2007 entstand eine mehr als 100 Blätter umfassende Zeichenserie Beckmanns zu dem idyllisch an der Ruhr gelegenen Haus Kemnade, einem ehemaligen Adelssitz, der unter anderem dem Museum Bochum als Außenstelle dient. Das Herrenhaus mit seinen mächtigen Türmen, im 17. Jahrhundert an Stelle eines niedergebrannten Vorgängerbaus errichtet, beherbergt heute diverse kulturhistorische Sammlungen. Die historische Aura des Gebäudes mit der in Teilen noch erhaltenen barocken Ausstattung (Treppenhaus, Kamine, Deckenornamente) verbindet sich mit der Nutzung als Präsentationsort von Kunst­objekten unterschiedlichster Kultur­kreise in einer Weise, die durchaus etwas vom Geist früherer Kunst- und Wunderkammern spüren lässt.

In dem für ihn typischen streng linearen Zeichenstil, unter Verwendung des immer gleichen Druckbleistifts der Mine 0,5 2B, gestaltet Beckmann einen Rundgang durch das Haus und seine diversen Ausstellungsbereiche. Eingangs lässt er den Blick schweifen vom gotischen Deckengewölbe der ehemaligen Kapelle zur barocken Holzfigur, die das Treppenhaus zu tragen scheint. Auf die im Foyer aufgestellten Instrumente antworten die Figuren eines der zahlreichen Kamine, die daran erinnern, dass das Haus hiervon seinen Namen herleitet (Kemnade von Kemenate, lat. caminatum 'mit einem Kamin versehen'). Über das historische Treppenhaus gelangen wir zu den Ausstellungsräumen der Musikinstrumenten­sammlung des Bochumer Musiker- und Sammlerpaares Hans und Hede Grumbt, die mit etwa 1800 Objekten unterschiedlicher Musik­kulturen die umfangreichste Instrumenten­sammlung Nordrhein-West­falens darstellt.

Nach einem Abstecher in die Alltagswelt des Mitarbeiterraumes, mit Fotopinnwand und Fliegenfänger, betritt Beckmann den Raum der Ostasiatika-Sammlung Ehrich. Darstellungen zahlreicher Klein-Figuren - die Sammlung beinhaltet unter anderem eine herausragende Kollektion japanischer Netsuke - wechseln mit liebevoll beobachteten Details, wie dem kunstvoll gefügten Gestell einer Vase oder den Spiegelungen einer Buddha-Figur im Glas der benachbarten Vitrine.

Auf Werke der zeitgenössischen Künstlerin Tamara K.E. trifft Beckmann im Ausstellungsraum des Kunstvereins. Mehr Beachtung noch als der Neonarbeit I`m a loser, so why don’t you kill me schenkt der Zeichner hier der handelsüblichen Dreifachsteckdose, über welche die temporär installierte Neonleuchtschrift mit Strom versorgt wird. Der plakativ ins Bild gesetzte Gegenstand modernen Alltagslebens wirkt wie ein augenzwinkernder Seitenblick auf die amerikanische Pop-Art. So hat Claes Oldenburg dem 3-Way Plug seit den 1960er Jahren in grafischen wie plastischen Werken wiederholt seine künstlerische Referenz erwiesen.

Im Seitentrakt betritt man die „Schatzkammer Kemnade“, die neu eingerichtete geldgeschichtliche Sammlung der Sparkasse Bochum mit historischen Zahlungs­mitteln, Spardosen und Sammelbüchsen aus ferner und jüngerer Vergangenheit, darunter Deutschlands ältestes Sparschwein aus dem 13. Jahr­hundert. Die scheinbar harmlosen Objekte erweisen sich unter Beckmanns Zeichenstift als beredte Zeugen ihrer Zeit, deren unterschwellige oder offen formulierte Botschaften, einst als Normalität empfunden, heute ihre Befremdlichkeit offenbaren.

Abschließend führt uns Beckmann zum Bauernhausmuseum, einem neben dem Haus Kemnade wieder aufgebauten Stiepeler Meierhof aus dem 18. Jahr­hundert. Die bäuerlichen Alltagsgegenstände wie Kutschen, Mobiliar, Kinder­wiegen und Spinnräder vermitteln nicht nur einen Einblick in die Lebens- und Alltagskultur einer vergangenen Zeit, sie spiegeln zugleich aus der zeitlichen Distanz heraus deren volkstümlich-religiöse Verfasstheit. So endet Beckmanns Rundgang vor der an­rührenden Darstellung eines von zwei Engeln flankierten segnenden Christus, der uns an den benediktinischen Leitsatz „Bete und arbeite“ gemahnt.

 

Der Blick des Zeichners

Die Zeichenkunst Matthias Beckmanns kommt unprätentiös daher. Sie verzichtet auf Strichelungen und Schraffuren und stützt sich gänzlich auf die Aussagekraft der Umrisslinie. Die Blätter entstehen ohne fotografische Hilfs­mittel und verbinden souverän die Tradition der klassischen Hand­zeichnung mit Aspekten moderner Gebrauchsgrafik, der Buchillustration und des Comic. Beckmanns Verfahren bezieht darüber hinaus durchaus filmische und foto­grafische Gestaltungsmittel ein. Er wechselt zwischen Totale und Nahaufnahme, zoomt an Details heran, umkreist die Objekte. Das spontane zeich­nerische Erfassen der Situation vor Ort weckt Assoziationen an fotografische Schnappschüsse. Zugleich zelebriert Beck­mann in seinen mitunter reduzierten, dann wieder komplex überein­ander geschichteten Lineamenten das zeichnerische Bild­medium, das immer auch Trans­formation und Interpretation der visuellen Wirklichkeit bedeutet.

Beckmanns Konzept ist einem dokumentarischen Ansatz verpflichtet, einem zeichnerischen Festhalten dessen, was ist. Mit der gleichen Aufmerksamkeit, die er den ausgestellten Werken widmet, zeichnet er die räumliche Gesamtsituation oder scheinbar nebensächliche Details wie Vitrinen, Beleuchtungssysteme und Luftbefeuchter. Die kniende Barockfigur des historischen Treppenhauses ist in Beckmanns Darstellung teilweise verdeckt von dem Feuer­wehr­schlauch, der dort während des Kulturfestivals Kemnade International deponiert wurde. Matthias Beckmanns Sicht auf das Museum Haus Kemnade ist getragen vom neugierigen Blick des Zeichners, dem ungeachtet hergebrachter Wertungen jedes Motiv gleichermaßen bildwürdig erscheint. Im Auf­einander­treffen von Erhabenem und Alltäglichem dieser Blätter schwingt ein leiser Humor mit.

 

 

 

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