Klaus Stemmer

Die Abguss-Sammlung Antiker Plastik Berlin

 

ist nach dem Deutschen Bundestag und dem „Hamburger Bahnhof“ der dritte große Zeichnungszyklus von Matthias Beckmann in Berlin, nachdem er bereits seit 2000 in mehreren anderen Museen (Paris, Köln, Bonn, Wissem und Münster) und in Kölner Kirchen das Verhältnis der Exponate untereinander, zum Raum und gelegentlich zum Besucher nur mit dem Bleistift zu definieren versucht hat. Der seit 2004 in Berlin lebende Künstler hat im Winter 2004/5 in der Sammlung gearbeitet und seine Skizzenbücher mit ca. 200

Zeichnungen gefüllt und dabei nolens volens eine Dokumentation  ihrer historischen Situation hinsichtlich Ort, Bestand und Aufstellung geschaffen. Der Betrachter kann in der vom Künstler gewählten  Abfolge der Zeichnungen sowohl in der Ausstellung „Vor Ort gezeichnet“ als auch im Begleitheft  den Gang durch das Museum mit seiner weitgehend chronologischen Aufstellung nachvollziehen. Da größtmögliche Mobilität auf nicht sichtbaren Rollsockeln und ein sehr rascher Ausbau des derzeitigen Bestandes von etwa 1850 Abgüssen zu den konzeptionellen Zielen der Sammlung gehören, ist die zeitliche Befristung der in den Zeichnungen festgehaltenen damaligen Aufstellung vorgegeben. Wenngleich Zeichnen leider nicht eine gerade sehr gepflegte und wohl auch nicht mehr oft beherrschte Technik der aktuellen Kunstäußerungen ist, bestünde dennoch die Gefahr langweiliger und konventioneller Ergebnisse angesichts der langen akademischen Tradition des Arbeitens nach Abgüssen seit der Renaissance.

Obwohl die Klassische Archäologie noch lange nach dem Siegeszug der Photographie gewohnt waren, auch im Umgang mit Skulpturen sich mit Umrisszeichnungen zu behelfen –etwa dem sechsbändigen Standardwerk von Salomon Reinach, Repertoire de la la statuaire grecque et romaine (Paris 1897 -1930) und auf eine Wiedergabe der Dreidimensionalität der Plastik zu verzichten, stellen die Zeichnungen von Matthias Beckmann eine Herausforderung an die Sehgewohnheiten dar. In der  klassizistischen Tradition etwa eines John Flaxman oder Peter Cornelius  über Picasso bis zu einigen Cartoonisten (Mordillo) beschränkt er sich ganz auf die Linie, kennt keine Schatten oder Schraffur, erst recht keine Farbe. Mit virtuoser Sicherheit, da gänzlich ohne Korrektur und scheinbar aus einem Fluss, wird der Bleistift geführt gleich einer Schrift locker aus dem Handgelenk. Sein Duktus folgt einem eigenen Rhythmus, schönlinig und gleichförmig ruhig, aber auch kleinteilig zittrig und nervös, doch stets mit großer Konzentration. Wenn der Betrachter den Linien folgt, kann er gleichsam den Schöpfungsprozess  der Umsetzung vom analytischen Auge des Künstlers zum verdichteten und vereinfachten Konzentrat  auf dem Karton nachvollziehen. Die innere Anteilnahme des Künstlers scheint gering, alles wird gleichwertig registriert und  objektiv wiedergegeben, wobei gelegentlich ein unterschiedlicher Druck auf den Stift auf ein Schwanken in der Anspannung schließen läßt, jedenfalls sich in den Originalzeichnungen, aber vermindert auch in den Reproduktionen des Beiheftes in variierenden Graustufen niederschlägt. Die vermuteten klassizistischen Vorbilder mit ihren festen, gleichsam gestanzten Konturen wirken vergleichsweise leblos.

Charakteristisch für Beckmann ist der gewählte Bildausschnitt, der zu den Rändern immer offen ist. Er hängt vor das Sujet einen imaginären Rahmen, der mit dem Blattrand identisch ist, und füllt ihn mit seinem Liniennetz aus. Die Linien führen über die Blattränder hinaus, verlieren sich im Unendlichen oder kehren von dort zurück, so dass oft Gegenstände bis zur Unkenntlichkeit angeschnitten werden. Meist gibt es kein eigentliches Hauptmotiv: Banales  wie Beschriftungsschilder, Heizkörper, Scheinwerfer, Lautsprecher und Kranhaken etc. treten gleichwertig neben die Skulpturen, ebenso die Fußbodenfließen im Vordergrund oder die auch real so störende Deckenbeleuchtung im Hintergrund. Das Nebeneinander der Motive erschwert auch die schnelle optische Trennung der Bildebenen; erst längere Bildbetrachtung oder Seherfahrung bzw. Kenntnis des Sujets ermöglichen dem Auge die  Tiefenstaffelung. Eindeutige Hintergründe wie Fenstergitter oder –durchblicke erleichtern die Orientierung. Linien umreißen weiße Flächen, die sich zu dekorativen Mustern verselbständigen. Ähnliche  Zierlinien treten innerhalb der Umrisse der Skulpturen auf und wirken wie Höhenlinien auf einer Landkarte, sind aber wohl eher als Lichtreflexe zu verstehen, tragen jedenfalls nicht zur plastischen Wirkung der gezeichneten Skulpturen bei.

Die in der kunstwissenschaftlichen Literatur oft diskutierte Frage nach der „richtigen“ oder der Haupt-Ansicht einer Plastik scheint Beckmann überhaupt nicht zu interessieren. Auch wenn die Ansichten und Ausschnitte beliebig oder zufällig zu sein scheinen, muß man doch bedenken, dass die gezeigte Auswahl aus einem viel größeren Fundus getroffen worden ist, in dem der Künstler die mannigfaltigen Möglichkeiten wechselnder Aspekte und Perspektiven auslotet. Extreme Unteransichten wechseln mit Ansichten aus der Vogelschau (von der Empore) ab, es tun sich überraschende blicke auf Zwischenräume, Nebenseiten und gelegentlich sogar Spiegelungen auf, so dass sich auch dem durch Sehkonventionen geschulten Auge des Archäologen neue Zugänge zum Verständnis der Skulpturen eröffnen. Wohl keine einzige der hier gewählten Ansichten könnte man in einer wissenschaftlichen Fachpublikation finden. In vielen Blättern offenbaren sich ein latenter Humor und Sinn für Ironie und Skurriles, die eine museale Aura und hieratische Überhöhung der gezeichneten Abgüsse als Kunstwerke erst gar nicht aufkommen lassen. Die häufigen Überschneidungen und Staffelungen könnten als eine ironische Anspielung auf die wissenschaftliche Sammelleidenschaft und die bedrängende Enge in den gegenwärtigen Sammlungsräumen verstanden werden. Skurrile Zusammenstellungen dieser Art ergeben sich fast zwangsläufig und machen langfristig den Bedarf einer größeren Ausstellungsfläche für die Abguss-Sammlung sinnhaft deutlich, erst recht wenn wir auch künftig die antiken Bildwerke mit Zeugnissen zeitgenössischer Kunstproduktion konfrontieren wollen.

Immerhin zeigt die Abguss-Sammlung mit den Zeichnungen von Matthias Beckmann ihre 100. Ausstellung in diesen Räumen nach ihrer Wiederbegründung im Jahre 1988. Keine andere Ausstellung wäre zur Feier dieses Anlasses besser geeignet, da sie die Abguss-Sammlung selbst zum Thema hat und ihr auf höchst geistreiche und qualitätvolle Weise ein Denkmal setzt.   

Die Freunde & Förderer der Abguss-Sammlung Antiker Plastik Berlin e.V.  haben als Dank an den Künstler für seine originelle und engagierte Arbeit unüblicherweise die Finanzierung dieses schönen Begleitheftes  übernommen und sich damit selbst ein Geschenk gemacht. 

                                   

 

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