Ingrid Leonie Severin

 

Während der Entstehungszeit dieser Tuschezeichnungen las Matthias Beckmann ein Buch. Nicht irgendein Buch, sondern den seit seinem Erscheinen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts äußerst populären, seitenstarken Bestseller des englischen Erzählers Laurence Sterne, Tristram Shandy (1769-67). Und das blieb nicht ohne Effekt. Figuriert doch irgendwo mitten im Romantext eine Zeichnung, nein, vielmehr eine Linie, die vom Autor selbst stammt. Sie zeichnet eine Bewegung nach, die einer der Hauptdarsteller der Erzählung ausführt: erregt schwingt er seinen Spazierstock und eine in sich gewundene, endlos erscheinende Linie entsteht, die Laurence Sterne illustrierend aufzeigt.

Ganz wie die Struktur des Romans sich in Anekdoten zerstreut, sind die ironisch-humoristischen Blätter in Beckmanns Tuschefluß weder chronologisch noch linear in Zeit und Raum. Vielmehr überrascht das sprunghaft Erzählerische, die eingestreuten Fragmente einer phantastisch erscheinenden Welt der Dinge und Figurationen, in einer Zwischendimension angesiedelt, die von einer Aufhebung von Zeit und Raum träumen lässt, uns in unserem Dasein anbindet, zurückholt und paradoxerweise wieder wegdrängt.

Bezwingend ist in den Zeichnungen von Matthias Beckmann die klare, von wenigen elementaren Zeichen getragene Ordnung der Dinge, Orte und Gedanken. Verlauf und Gerüst der Linien fügen sich locker zueinander – wirken eher zufällig. Einfälle, Gedanken werden zu Bildern, um wieder neu gedanklich an der Linie entlang ertastet zu werden und uns dabei immer im Zweifel zu lassen. Es sind spielerische Variationen, die an die Arbeiten von André Thomkins erinnern. Sie erweitern die Bildbeständigkeit der früheren, von Piktogrammen und Isotypes inspirierten Aquarelle und Zeichnungen Beckmanns und zeigen einen lockeren, freien Umgang mit den von allen Zwängen – fast kindlich reduktiv – befreiten Motiven.

Mit einfachen Mitteln und asketischer Enthaltsamkeit im Duktus entstehen präzise Figuren, Strukturen und Räume. Archetypen, wie beispielsweise die Form der Spirale steigen aus dem Papiergrund auf, in dem sie gleichermaßen inversiv wieder verschwinden. Diese Inversion ist antagonistisches Prinzip und hat System. Beckmann entwickelt Figurationen, die mehrere mögliche Variationen darstellen, Orte, Räumlichkeiten und Befindlichkeiten in einem janusköpfigen Wechselspiel. Positiv wird Negativ und zergliedert springt das Motiv einfach von Seite zu Seite, paradoxe ironische Formulierungen, mit der Linie festgemacht und aufgelöst zugleich.

Piktogramme, kodierte Dinge des Alltags, Labyrinthe und Spiralen wirken durch bewußt antizyklisches und achronologisches Bei-und Zueianander beunruhigend auf den Betrachter, beruhigen aber zugleich in ihrem bildnerischen Gleichgewicht. Jean Baudrillard beschreibt in seinem Buch über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen diesen antagonistischen Zustand, denn unsere alltägliche Umwelt stellt für ihn ein abstraktes System dar, in dem die Gegenstände angesichts ihrer Funktion isoliert dastehen und alleine der Mensch seinen Bedürfnissen entsprechend ihre Kohärenz herstellt. Kohärenz aber entsteht bei Beckmann zwischen den Linien.

Die Kontur ist mehr als Kontur. Sie ist auch mehr als bloße Linie. Sie bezeichnet und formuliert, verbindet Teile, beschreibt Ereignisse und hebt die Handlung wieder auf. Eine erwartete Bildgeschichte geht verloren wie beispielsweise die phantastischen Verwandlungen der anthropomorphen Sitzmöbel, die sich aufheben und der sich selbst reflektierende Mensch, der sicher am Ende verschwinden würde. Die Zeichnungen stellen unsere möglichen Wahrnehmungen auf subtile Art immer wieder neu in Frage und bereichern unsere Phantasie um das im Wahrgenommenen Verborgene.

Die Motive, oft in unerwartetem Darstellungsmodus, halten sich an keine bildnerischen und zeitlichen Gesetze. Die Kontur wird zur Fläche, die Fläche des weißen Zeichenpapiers wirkt unbegrenzt, ins Unendliche steigerbar, das Präzise in der Zeichnung wirkt provisorisch, das Bestimmte kippt um in etwas Unbestimmtes, das einheitliche Ganze ist in sich gespalten und gebrochen. Eingrenzung wird zur Entgrenzung, Existenz durch die Ambivalenz von Strich und Papier hervorgerufen. Es sind Zeichnungen, die sich in der Nähe der mehrdeutigen Rätselhaftigkeit von Alphabeten, wie beispielsweise der Hieroglyphen oder der semitischen Schriften ansiedeln. Sie sind nicht systematisch zu dekodieren wie unser Alphabet, leben von dem was nicht gezeigt wird.

Nichts ist fest, alles im Fluß, im Tuschefluß. Die Zeichnungen, in denen sich die Linien zum Muster oder Rapport verdichten, bringen Farbe und beleben die hier vorgestellte Serie: Auch hier wird wieder aufgehoben, diesmal zwischen Zeichnung und Tonalität. Immer wieder verweist Beckmann mit leicht angelsächsisch angehauchtem Humor auf die eingeschliffenen Grenzen und Dogmen unserer Wahrnehmung. Sich auf dieses Wechselspiel einzulassen sind wir eingeladen.

Zeichnungen als Gedankenexperimente (Max Bense über Rudolf Schoofs), reduziert auf Wesentliches, präzisiert in der Formulierung, mehrdeutig und facettenreich.

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