Anja Osswald

300 Gedonnerte:
Zeichnerische Streifzüge durchs Akademiewesen


Die Zeichnung ist ein Medium der Oberfläche. Keine Tiefe, kein Illusionsraum, nur Skripturen auf Papier, die den Blick in die Flächigkeit zwingen. Statt in die Vertikale zu gehen, dehnt er sich aus, wandert an den gesetzten Linien entlang bis zu den Rändern des gezeichneten Blattes und erschließt sich so die Formen, die im Geflecht der Striche und Lineaturen Gestalt annehmen. Es ist diese formale Reduktion, dieses Beharren auf der Oberfläche, das den spezifischen Zeichencharakter der Zeichnung ausmacht und im besonderen Maße die Arbeiten von Matthias Beckmann prägt. Seine Zeichnungen sind Ausschnitte: vor Ort entstandene Momentaufnahmen von Situationen oder räumlichen Settings aus verschiedenen Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeiten. Konzentriert auf die Umrisslinie zelebrieren sie einen Purismus der Form, der allerdings - und das ist das Entscheidende bei Beckmann – durch das Arbeiten in Zyklen und Werkgruppen in die Zeitachse gedehnt wird. So steht die einzelne Zeichnung nicht für sich, sondern kommuniziert mit der jeweils nachfolgenden, nimmt Kontakt auf zur nächsten und animiert den Betrachter dazu, Verbindungen zwischen den Blättern herzustellen. Die gezeichneten Oberflächen erhalten auf diese Weise eine zeit-räumliche Verortung. Man könnte auch sagen: Sie werden filmisch.

Für die von seinem Freund und Künstlerkollegen Svätopluk Mikyta kuratierte Ausstellung „300 Gedonnerte“ hat Matthias Beckmann auf sein Lieblingsformat zurückgegriffen: das Leporello. Schon rein formal ähnelt das Leporello, bestehend aus einem langen Papierstreifens, der zieharmonikaartig zusammengelegt ist, einem Filmstreifen. Mit mehreren solcher Faltbücher im Gepäck verbrachte der Berliner Künstler im Jahr 2007 einige Tage in der Kunstakademie von Bratislava. Dort verfolgte er die Rituale der Aufnahmeprüfungen, beobachtete die Studenten beim Porträtzeichnen und im Malersaal, fokussierte die Modelle und widmete sich ansonsten den typischen Interieurs einer Kunstschule mit Regalwänden, Gängen, Materialdepots, Gipsplastiken und Werkräumen. All diese Eindrücke zeichnete er vor Ort in die mitgebrachten Leporellos.

Wenn, wie oben gesagt, das Wesen der Zeichnung in ihrem Oberflächencharakter liegt, dann führt die gefaltete Ausdehnung dieser Oberfläche im Leporello zu einer paradoxen Umkehrung: die Fläche entfaltet sich – und wird räumlich. Gerade die unterschiedlichen Perspektiven und die kleinen Verrückungen des Standortes bedingen immer wieder ähnliche und im Detail doch andere Ansichten. In der Abfolge ergibt sich ein multiperspektivischer Bildraum, der die Abläufe wie auch die Unübersichtlichkeit und auch das eigenwillig Altmodische eines modernen Akademielebens wiedergibt.

Nicht vergessen werden sollte über all dem allerdings der ästhetische Mehrwert, den die Präsentationsform Leporello erzeugt. Es macht einfach Spaß, mit dem Auge über die gefalteten Einzelblätter zu schweifen,  sich von Ort zu Ort führen zu lassen und hier und da bei einzelnen Details zu verweilen. Matthias Beckmanns mit dem Zeichenstift dokumentierte Streifzüge durch die Akademie werden für den Betrachter so zu einer Reise in das Reich der Zeichen. Eine Oberflächenwelt mit vielen Schichtungen...

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