Matthias Beckmann

Du kommst auch drin vor
Mein Zeichenprojekt im Kunstatelier Lebenshilfe Braunschweig

Als ich einem Freund erzählte, dass ich dabei wäre, mein Leben aufzuschreiben, sagte er: 'Da komm ich doch sicher auch drin vor?' 'Aber natürlich', sagte ich, 'aber klar, du kommst auch drin vor.' Und so fand ich den Titel für meine Erinnerungen.

Hanns Dieter Hüsch, Du kommst auch drin vor. Gedankengänge eines fahrenden Poeten, München 1990


Als ich an einem Montagvormittag im Dezember 2011 im Kunstatelier Lebenshilfe Braunschweig ankam, traf ich auf eine große Gruppe beim gemeinsamen Kaffeetrinken. Das Kennenlernen war unkompliziert. Die Atelierleiterin Marlies Bulmahn stellte mich kurz vor. Zehn Tage wollte ich mich im Kunstatelier Lebenshilfe aufhalten und eine umfangreiche Zeichenserie erstellen.

Wie bei vorhergehenden Projekten über Museen, den Deutschen Bundestag, die Abteilungen Chirurgie, Radiologie und Pathologie der Berliner Charité, Kunst- und Wunderkammern, die romanischen Kirchen in Köln oder das vietnamesische Leben im Berliner Stadtteil Lichtenberg sollte nun eine facettenreiche Zeichenfolge über das Kunstatelier Lebenshilfe entstehen. Meine Art der Bildsequenz weist mit ihrem nüchternen Blick auf den Alltag, der ausschnitthaften Bildgestaltung, wechselnden Perspektiven und der Gegenüberstellung von Raumansichten und Details eine gewisse Nähe zu Fotoreportage und Film auf. Ohne Vorzeichnungen, fotografische Hilfsmittel oder Korrekturen entstehen die linearen Bleistiftzeichnungen vor Ort.

Ich reichte einige Kataloge herum und gleich zeigte mir Oliver Nowicki zwischen Kaffeetassen und Broten seine Tierzeichnungen. So kamen wir ins Gespräch. Die Unvereingenommenheit ist erfrischend. Wer hier hereinkommt, wird nicht vorab eingeschätzt oder bewertet. Ich musste mein künstlerisches Konzept nicht ausschweifend erklären oder gegenüber Einwänden verteidigen. Die Vita, die andernorts von Bedeutung ist, interessiert hier niemanden. Hier bin ich nur der, der ich bin.

Für zehn Tage war das Atelier der Lebenshilfe auch mein Atelier. Die allgemeinen Arbeits-, Kaffee- und Mittagszeiten bestimmten meinen Rhythmus. Der positiven Arbeitshaltung fühlte ich mich verbunden da man die Existenzberechtigung von Bildern erst gar nicht in Frage stellt – es wird ganz selbstverständlich gemalt und gezeichnet. Ich begegnete Zeichnern und Malern, die zum Teil sehr ausführlich über ihre Beweggründe erzählen, wobei Lebensgeschichte und künstlerische Interessen oft in engem Zusammenhang stehen. Nie zuvor habe ich Künstler so anschaulich über ihre Themen reden hören wie etwa Dirk Geffers, Lutz Möller, Thorsten Ruperti, Johanna Kranz, Volker Darnedde oder Reinhard Dittrich über Enten, bösartige Gärtner, das Runde und das Eckige, Telegrafenmasten, Bügeleisen, Staubsauger, Telefonanlagen, Fernsprecher, Farbexperimente, ungerechte Lehrer, Zahlenreihen oder Frauen. Gerne hätte ich den ungemein treffsicheren Zeichner Lutz Möller bei dem geplanten Besuch eines nahe gelegenen Staubsauger-Service-Centers begleitet.

Da ich mit Vorliebe Museen besuche, bin ich an zwei Tagen mit einigen Interessierten zum Zeichnen in das nahe gelegene Naturkundemuseum gegangen. Meine Arbeit als teilnehmender Beobachter hat einige veranlasst, sich auch mit dem Stift in der Hand der unmittelbaren Umgebung zu widmen oder die Kolleginnen und Kollegen zu porträtieren. Winfried Kostka, der mich stets gelobt hat wenn ihm eine Zeichnung gefiel, hat mich gezeichnet und mir das farbige Blatt geschenkt. Die Mehrzahl der Künstler hat sich nicht stören lassen und einfach weiter gearbeitet.

Meine Zeichnungen über das Kunstatelier Lebenshilfe sind persönliche Beobachtungen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität erheben. Interessant wird es dort, wo die sachliche Beobachtung einhergeht mit der Verselbstständigung der Linie, die Personen, Dinge und Räume in gleichwertige Bildelemente verwandelt. Da verschmilzt die Bananenstaude mit den Figuren des bemalten Paravents, vor dem sie steht. Der Blick ins Atelier wird zu einem Geflecht, in dem sich die abgezeichneten Bilder, die die hier tätigen Künstler geschaffen haben, auf der gleichen Realitätsebene bewegen wie die dingliche Umgebung. Bei der Frage nach dem verzwickten Verhältnis von Wirklichkeit und Abbild gelangt man bald zu dem Ergebnis, dass es der Zeichnung wohl egal ist, was real und was dargestellt ist. Hauptsache, das Bild ist schön.

Für die Ausstellung durfte ich aus den Werken der Künstlerinnen und Künstler Arbeiten auswählen, die mir besonders gefallen und die ich nun meiner Zeichenserie gegenüberstelle: Ihr kommt auch drin vor.

 

 

 

 

 

 

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