Stephan Berg

Zwischen dem Sichtbaren

Zu Matthias Beckmanns Werkgruppe „Fleischfarbe mittel“

 

Auf einer blaugrauen, quadratischen Arbeit aus der 1996 entstandenen Serie „Mehr Licht“ sehen wir eine angeschaltete Tischlampe, deren Kabel allerdings nicht in einer Steckdose steckt, sondern als selbst leuchtender Lichtbogen über die Lampe zu ihrem Fuß zurückgeführt wird. Ein anderes Bild derselben Serie positioniert zwei Taschenlampen so exakt mittig vertikal einander gegenüber, dass sich ihre Lichtkegel, die sich symmetrisch treffen und dabei überlagern, sozusagen selbst erhellen. In ihrer paradoxen Lakonie, ihrer formal äusserst akkurat gefassten und gerade deshalb umso deutlicher werdenden Absurdität, können diese zwei Bilder als durchaus paradigmatisch für das gesamte Oeuvre Matthias Beckmanns gelten. Über die letzten zehn Jahre hat sich der Zeichner einen Mikrokosmos geschaffen, der traumwandlerische Surrealität mit höchster zeichnerischer Präzision und Ökonomie der eingesetzten Mittel verbindet. Statt auf barocke Redundanz zielt die gezeichnete Linie auf Verknappung und Verdichtung. Streng beaufsichtigt vom Autor beschreibt sie ihre Gegenstände mit einem Minimum an Arabesken und einem Maximum an semantischer Komplexität. Was uns vorgeführt wird, zeigt sich in einer verwirrenden Klarheit: So präzise und elementar eingesetzt, als wäre es aus Stein gehauen und gleichermaßen doch mit einer (bisweilen beunruhigenden) Doppelbödigkeit ausgestattet.

In den Arbeiten der Werkgruppe „Mehr Licht“ – insbesondere den beiden eingangs skizzierten – sorgt die in ihnen verhandelte solipsistische Selbstreflexion der Dinge dafür, dass sie gleichzeitig offensichtlich und rätselhaft opak erscheinen. Die Taschenlampe, die nichts erleuchtet als sich selbst in Gestalt ihres eigenen Gegenübers ist einerseits in einem selbstbefruchtenden Kreislauf gefangen. Andererseits erzeugen die zwei Taschenlampen durch die sich überlagernden Lichtdreiecke auch eine geometrische Figur ausserhalb ihrer selbst, durch die das Bild den Charakter einer Abstraktion gewinnt. Dies umso mehr als die Taschenlampen, die doch dieses konstruktive Tableau erst erzeugten, darin als Bildzeichen nahezu verschwinden, d.h. zu geometrischen Details innerhalb einer geometrischen Gesamtkomposition werden.

In der Werkgruppe „Fleischfarbe mittel“, die den Mittelpunkt der „Heimspiel“ betitelten Ausstellung Beckmanns im Arnsberger Kunstverein bildete, erscheint die oben angesprochene, abstrahierende, selbstreflexiv in sich kreisende Bildanlage, zugunsten eines weiter ausgreifenden, farbig gefassten, narrativen Gefüges zurückgedrängt. Wie in anderen Zeichenfolgen bevorzugt Beckmann auch im vorliegenden Fall eine Vorgehensweise, bei der sich die spezifische Logik der Zeichnung aus der kontrastierenden Zusammenführung zweier, meist in sich schon sprachlich assoziativ aufgeladener Bild-Teile in Gang setzt. So setzt der Zeichenstift die Schwarz-Weiß-Lineatur eines männlichen Oberkörpers mit ausgebreiteten Armen direkt über ein Paar Kirschen mit in sich verschlungenen Stielen. Ein anderer männlicher Oberkörper wird in Beziehung zu einer blauen Schüssel gesetzt, und eine babyhaft rundliche nackte Gestalt findet sich neben einer stachellosen, wulstigen Kakteenform wieder.

Die gezeichneten Elemente evozieren in ihrer reduzierten, linearen Klarheit – wie bereits verschiedentlich hervorgehoben – die Assoziation zu Piktogrammen, die sie gleichwohl strukturell unterlaufen. Während Piktogramme im konventionellen Sinn – beispielsweise als Verkehrszeichen – gerade auf Komplexitätsreduktion im Sinne möglichst universeller (also auch sprachübergreifender) Lesbarkeit zielen, ist es bei Beckmann gerade die klare Linie, die die inhaltliche Ambiguität befördert. Die farbliche Fassung der so präsenten und dabei gerade nicht auf Entschlüsselbarkeit gerichteten Bildzeichen unterstützt dabei das Anliegen des Zeichners kongenial. Der Einsatz der Farbstifte folgt dabei einer Diktion, in der das klassische Bemühen, beispielsweise um authentische Lokalfarbe und differenzierte Volumenzeichnung ebenso sichtbar wird, wie der semantische Leerlauf, der dadurch produziert wird.

„Fleischfarbe mittel“, der Titel der Serie verweist auf den gleichnamigen Buntstift, mit dem sich Beckmann, unterstützt durch einen subtil unterlegten Grünton, dem Problem glaubhafter Visualisierung von Haut nähert. Eine fast altmeisterliche Aufgabe, der sich der Zeichner mit sichtbarer Lust widmet. Gesichtsschattierungen, Oberarm-Muskeln, Brustpartien: Der Buntstift modelliert die Körperpartien so liebevoll nachvollziehbar, als taste er die Textur der Körper ab, als wolle er sie gleichsam mit dem Farbstift nachschmecken. Aber diese lustvoll-zärtliche Schönzeichnerei, diese lineare Delikatesse, mit der die Tuschebewegungen ausgeführt werden, als wollten sie sich selbst umschmeicheln, steht in auffälligem Gegensatz zu der Schwierigkeit, uns auf das, was wir sehen, einen Reim zu machen. Ein nackter Jungenkörper, auf dessen Schultern ein Ball sitzt. Ein sorgfältig gescheitelter Kinderkopf mit geschlossenen Augen, unter dem eine Amsel im Weiss des Papierfeldes sitzt. Eine Hand, die den Stiel eines merkwürdig organoiden, vage an mikrobiotische Formen erinnernden Dings hält.

Der Versuch, dieses Angebot wie ein Bilderrätsel zu behandeln liegt nahe und verfehlt diese Arbeiten dabei grundsätzlich. Statt auf Lösungen zielen sie vielmehr auf Komplexitätsmaximierung und das gleich auf mehreren Ebenen. Beckmann verfolgt dabei im Wesentlichen zwei komplementär ineinander verzahnte Strategien: Die der formalen Analogie bei starker inhaltlicher Kontrastierung, und die der formalen Gegenüberstellung bei inhaltlicher Engführung. Deutlich wird das erste Verfahren in einer Zeichnung, auf der ein nackter Frauenoberkörper zu sehen ist, dessen Brüste durch einen (Metall)reifen miteinander verbunden sind. Darunter befindet sich ein Stierkopf, dessen gebogene Hörner und dessen Nasenring exakt die Rundung des oberen Brustrings wiederholen. Schon die Konstellation macht deutlich, dass es hier nicht um simple Paradoxien geht, sondern um eine weitreichende Aushebelung semantischer Eindeutigkeiten. So erscheint der Brustring auf modisches Piercing zu verweisen, das allerdings durch die groteske Überdimensionierung sofort wieder unterlaufen wird. Der Nasenring des Stiers verschiebt den modisch-ästhetischen Aspekt des Themas überdies auf die Ebene reiner Funktionalität, während die gerundete Hörnerform im Sinne einer formalen Analogie gelesen werden kann, die im silbriggrauen Haarhalbrund des Frauenkopfes noch einmal aufgenommen wird.

Das Motiv der formalen Kontrastierung bei inhaltlicher Annäherung wird dagegen besonders deutlich in einem Blatt, das neun graue Formen mit merkwürdigen molluskelhaften Wurmfortsätzen zeigt. Die unterste, zehnte Form aber verwandelt sich durch eine darunter geschobene fleischfarbene, gesichtslose Büste in ein anonymes Brustporträt mit exzentrischer Haartracht. Auch hier ist natürlich die Verschmelzung der zwei Formen zu einer Zeichen- und Sinneinheit weder des Rätsels Lösung, noch der Inhalt der Gesamtzeichnung. Vielmehr signalisiert sich darin die unaufhebbare Ambivalenz des Zeichenangebots, das einerseits in einem seriell orientiertenVariationsablauf Fraktalprozesse der Selbstähnlichkeit zu illustrieren scheint, andererseits aber auch von der Arbitrarität der Zeichen handelt, denen man nicht nur einen bestimmten Sinn unterschieben (hier eben den einer Haartracht), sondern eben genauso gut auch entziehen oder anders motivieren kann.

Zu sehen ist auf Beckmanns „Fleischfarbe mittel“ also die präzise und objektiv unhintergehbar wirkende Fixierung eines labilen, schillernden Gleitens der Bedeutungen, exemplifiziert an Zeichenmaterial, das hinreichend gegenständlich ist, um assoziativ weitergedacht werden zu können, und gleichzeitig so in sich verkapselt, dass es sich nie zu einer fiktionalen Erzählung rundet. Die Zeichnungen funktionieren insoweit wie Fallen, in denen sich der Betrachter zwangsläufig bei dem Versuch verheddert, ihre einzelnen Komponenten logisch zusammenzufügen, ohne dass ihm gleichzeitig eine andere Wahl bliebe (da jedes Bildzeichen so angelegt ist, dass es sofort sprachlich und damit kausal konnotiert).

Die Logik, die in diesen Zeichnungen am Werk ist, ähnelt am ehesten der des Märchens, nicht nur wegen des Motivinventars, in dem Zwerge oder Frösche eine explizite Rolle spielen, sondern vor allem im Hinblick auf den von Zauberei und wundersamen Fügungen beherrschten Erzählplans des Märchens, durch den sich kausale Löcher in der Geschichte einfach überspringen lassen. Die zentrale Bedeutung, die dem Begriff des Lücke in den Arbeiten Beckmanns zukommt, lässt sich im Blick auf jede einzelne der Zeichnungen überprüfen, in denen das Weiss des Untergrundes mindestens eine ebenso große Rolle spielt wie die Lineatur des Zeichenstifts. Gerade die streng gefasste Akkuratesse des Buntstiftmotive macht ihre Isoliertheit im Gesamtgefüge der jeweils DIN A4 blattgroßen Zeichnungen umso deutlicher. Das weisse Papier ist stets alles andere als ein neutraler Grund, es ist eine selbst aktive Fläche mit grundsätzlich bodenlosem Potential. Was sich auf ihr an Paarungen zeigt, kann schon deswegen nie zueinanderkommen, weil der weissse Papiergrund ein fester Bestandteil jeder zeichnerischen Spur ist und nicht nur formale Bedingung für ihr Auftauchen.

Auf einer dieser Zeichnungen schläft im oberen Bilddrittel ein nacktes Kinderwesen mit dem Kopf auf eine graue Unterlage gebettet. Knapp darunter an exakt dieselbe Position gesetzt, verwandelt sich das Ruhekissen in ein saugendes schwarzgraues Loch, das uns in eine Finsternis jenseits von Dingen und ihren Bedeutungen führt. So entpuppt sich schließlich nicht narrative Kontextualität als Ziel der Zeichnungen, sondern gerade die Reflexion des brüchigen Zusammenhangs der visuellen Zeichen im Sinne ihrer Kontingenz. Das Moment eines „Alles könnte auch ganz anders sein“, das an die Stelle fest gefügter Bedeutungsstatik relationale Prozessualität setzt, sorgt für ein Klima durchgehender produktiver Doppelbödigkeit im Reich des Beckmannschen Zeichenstiftes. In Peter Greenaways Film „Der Kontrakt des Zeichners“ erfasst der Künstler durch das Raster seiner Zeichenapparatur manisch alles, was vorhanden ist und dokumentiert so die Lösung eines Rätsels, das ihn schlußendlich das Leben kostet. Der Zeichner Beckmann dagegen spürt mit ebenso großer Akribie den Dingen nach, sie sich zwischen dem Sichtbaren befinden und erzeugt damit Bilder, die in ihrer bestechenden Klarheit von einer Welt erzählen, in der jede scheinbare Lösung nur der Beginn eines neuen Rätsels ist. Und jedes Rätsel in Wahrheit ein Bild, das von nichts anderem, als von seiner eigenen, in sich versponnenen Wirklichkeit erzählt.

 

 

|||