Jürgen Raap

Matthias Beckmann - Gänse, Ritter, Mausefallen

 

Anderthalb Jahrhunderte nach der Erfindung der Fotografie leistete sich das britische Verteidigungsministerium gegen Ende des 20. Jh. immer noch einen offiziellen Schlachtenmaler, dessen Aufgabe es war, im Falkland- und im Irakkrieg die dortige Fauna und Flora mit dem Zeichenstift festzuhalten. Daher ist es völlig legitim, dass auch der Berliner Künstler Matthias Beckmann im Jahre 2011 den Sälen eines Museums nicht mit der Kamera zuleibe rückt, wie man dies im medialen Zeitalter wohl erwarten würde, sondern mit dem Zeichenblock und einem weichen Bleistift, Härtegrad 2b. Dabei gilt sein zeichnerisches Interesse nicht ausschließlich den Ausstellungsstücken: als er sich im Juni 2011 eine Woche lang im Ruhrgebiet aufhielt und dort in den Sammlungen des Emschertal-Museums zeichnete, im Herner Schloss Strünkede, in der Städtischen Galerie und im Heimat- und Naturkundemuseum Wanne-Eickel, da richtete er seinen Blick ebenfalls immer wieder auf das Beiläufige und Unprätenziöse. Die Gänse im Schlosspark fanden ebenso als Bildmotiv Beachtung wie der Heizkörper neben einer geöffneten Tür zu einem der Ausstellungsräume oder die Zuschauer einer Theateraufführung.

Solche Motive hält Beckmann in einfachen, klaren Umrisslinien auf dem Zeichenblatt fest: die Gänse kauern auf dem weiß belassenen Papiergrund, und bei der eng gedrängten Aufreihung alter Öfen, die mit reichlichem Ornamentzierrat versehen sind, ist in der Zeichnung die Kontur jedes einzelnen Exponats deutlich erkennbar. In dieser Stilistik offenbart sich bei aller künstlerischen Freude am Detail zugleich das Urprinzip der Zeichenkunst, nur das Wesentliche zu erfassen und das Überflüssige wegzulassen.

Alle diese Zeichnungen sind ausschließlich vor Ort entstanden, d.h. sie wurden nicht nachträglich bearbeitet, und sie geben damit die unmittelbare konkrete Wahrnehmung des Künstlers ungefiltert wieder. Der Betrachter spürt, was „Freihandzeichnen“ in seinem Wortsinn bedeutet. Im Unterschied dazu nimmt die klassische mathematisch-perspektivische Konstruktion nach den Kriterien einer kunstakademischen Kompositionslehre oft einen Idealstandpunkt des Betrachters an. Das erlaubt bisweilen eine künstlerische Verzerrung oder gar Korrektur der bildlichen Realität und führt dann zu einer ästhetischen Distanzierung gegenüber der konkreten Situation – nicht so bei Matthias Beckmann: er zeichnet das Modell einer Zechenanlage so, wie es auch der Besucher im Museum selbst wahrnimmt. Dem Betrachter der Zeichnungen offenbart sich somit die atmosphärische Dichte der Blätter in einer Weise, die man heute gerne mit dem Modewort „authentisch“ beschreibt.

Auch das Banale ist auratisch. Deswegen zeichnet Beckmann in den Museen nicht nur die kulturell hoch geschätzten Ausstellungsstücke, sondern ebenfalls das Ambiente – denn auch ein Treppengeländer sagt ja sehr viel über die Geschichte und die Ausstattung eines Gebäudes aus. Beckmann begreift den Raum und seine Einrichtung zusammen mit den Exponaten an den Wänden oder in den Vitrinen immer als eine Einheit.

Der Künstler setzt sich mit seinem Zeichenblock auch gerne in Sammlungen, deren Ursprung in den alten fürstlichen Kunst- und Wunderkammern liegt, da diese ein aus heutiger Sicht bizarr anmutendes Sammelsurium von Hochkulturellem und Kuriosa bieten. Erst später entstanden die heute noch üblichen Fachmuseen nach einer wissenschaftlichen Systematik.

Heimat- und Regionalmuseen haben immer schon eine Geschichte der Wirtschaft und der Alltagskultur in ihre Schausammlungen einbezogen. In diesem Falle der Sammlungsbestände von Herne und Wanne-Eickel gilt das für die Industriegeschichte der Region, und gewiss liegt gerade in diesem Aspekt für Matthias Beckmann ein besonderer Reiz. Seine Zeichnungen kommunizieren deutlich, dass eine auratische Aufladung, die ein Objekt durch eine Archivierung oder Musealisierung erfährt, eben nicht zwangsläufig zu einer mythischen Entrückung führen muss, wie dies andere kulturgeschichtliche Überlieferungen erfahren haben (gleichwohl hatte man seinerzeit der Steinkohle die Bezeichnung „Schwarzes Gold“ verpasst und mit dieser Metapher ihre volkswirtschaftliche Bedeutung im Montan-Zeitalter entsprechend poetisiert).

So betont Beckmann in der Auswahl und Zusammenstellung seiner Motive ausdrücklich, dass in solch einer Museumssammlung der Höhlenbär, die Ritterrüstung, die Mausefalle und eben das erwähnte Modell der Zechenanlage kulturell gleichwertig nebeneinander stehen, unabhängig von ihrem jeweiligen historischen Alter. Denn nicht nur das Alter der Exponate ist ein Kriterium für ihre emotionale Bedeutung in unserer Wahrnehmung als Kulturgut, sondern auch der eigene sentimentale Erinnerungshorizont der Besucher: der pensionierte Bergmann, der selber noch unter Tage Kohle gehauen hat, betrachtet dieses Zechenmodell (und dann vielleicht auch Beckmanns Zeichnungen) mit anderen Assoziationen als sein Enkel, der das Ruhrgebiet nur in seinem heutigen Erscheinungsbild kennt, nach dem gründlichen Strukturwandel in den vergangenen dreißig Jahre. 

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