Helmut Herbst

Das große Haus an der Rems

 

Außerhalb der die Altstadt von Waiblingen umgebenden Stadtmauer steht nahe des Flusses Rems ein Fachwerkhaus, das den verheerenden Dreißigjährigen Krieg unbeschadet überstanden hat. In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts von den Besitzern aufgegeben, war es dem Verfall nahe, wurde aber in seiner bauhistorischen Wertigkeit erkannt, von der Stadt aufgekauft und aufwändig wiederhergestellt. Der ursprünglich als Gerberhaus von 1550 bis 1553 errichtete Bau, der im 17. Jahrhundert in mehrere Besitzer aufgeteilt wurde und als Weingärtnerhaus diente, wurde in den folgenden Jahrhunderten als Wohnhaus genutzt. Nach der ab 1986 erfolgten Restaurierung, welche die künftige Funktion als Museum berücksichtigte, erhielt die Stadt Waiblingen für die neuartige Auffassung der Sanierung ein Verdienstdiplom von „Europa Nostra“. Das alte Fachwerkhaus wird selbst als Museumsobjekt betrachtet und stellt sich selbst aus. Verweise auf die Stadtgeschichte sind eher selten, sondern es wurde mehr Wert auf die Präsentation zeitgenössischer Kunst gelegt, die in Wechselausstellungen oder in der Projektserie „Rendez-vous mit einem alten Haus“ als Dauereinrichtung gezeigt wird. Besonders Letzteres trägt dazu bei, dass das alte Haus mit Zeitgenössischem konfrontiert wird und die künstlerische Auseinandersetzung um die Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend dokumentiert.

Der in Berlin lebende Künstler Matthias Beckmann, der sich auf die zeichnerische Interpretation von Museen eingelassen hat, erhielt 2002 den Auftrag, das „Große Haus an der Rems“ auf seine Art und Weise zu erfassen. Zwischen 2002 und 2003 entstanden etliche Bleistiftzeichnungen, die der Künstler nach einer Auswahl zu einem Band zusammenfasste und mit „Das Haus“ überschrieb. Das Ergebnis ist ein mit viel Liebe und überraschenden Einblicken in den Hausveteran gestaltetes Buch geworden, das mit seiner zeichnerischen Präzision besticht.

Matthias Beckmann hat sich genau umgesehen, auf unauffällige Details geachtet und dem Museum einen neuen Blickwinkel eröffnet, der das ohnehin spannungsgeladene Haus weiter bereichert. Es liegt natürlich auch in der Natur eines Museums, dass die Exponate nicht immer dieselben sind, sondern dass sie ausgewechselt bzw. neue thematische Schwerpunkte gesetzt werden. So auch im vorliegenden Fall, welcher das Museum im Zustand von 2002 bis 2003 wiedergibt. Von einigen Ausnahmen abgesehen, entspricht das von Matthias Beckmann Dargestellte dennoch der Erscheinungsform des Hauses. Mit der Außenfassade beginnend, die das Architekturdenkmal in seiner Mischung zwischen dem traditionelleren, älteren oberdeutschen und dem späteren, um 1550 entstehenden dekorativeren niederdeutschen Baustil zeigt, wendet sich der Zeichner den römischen Exponaten zu, die aus Tongeschirr und Bildwerken der ehemaligen römischen Töpferei bestehen.

Dass im Museum auch Vermittlung und aktives Lernen stattfindet, belegen die Abbildungen mit wissbegierigen Schülern und ihrer Museumspädagogin. Der Betrachter steigt dann vom Untergeschoss über eine Wendeltreppe in das darüber liegende, wo er mit schrägen Wänden und allerlei in einer Vitrine aufbewahrten Fundstücken aus dem Haus konfrontiert wird. Die moderne Einrichtung der Museumsausstattung und der erhalten gebliebene Baubestand aus der Mitte des 16. Jahrhunderts ergaben weitere Spannungsfelder, die dem Zeichner auffielen. Neben einem Tapetenrest, der Spendenbox, dem Messgerät, dem Feuerlöscher und der mumifizierten Ratte in einer Vitrine sind es vor allem die hölzernen Konstruktionen des Skelettbaus, die Beckmann interessierten: Das sind die miteinander verzapften Balken der Binnen-Konstruktion, die mit gewundenen Hölzern verflochtenen Wandausfüllungen oder die mit Holzpflöcken ausgestattete Bohlenwand der Bohlenstube, die mit ihrer Rhythmik dem Seriellen entgegenkommen. So haben es ihm auch der alte Zählerkasten – ein bewusst beibehaltenes Exponat – und die in das Dachgeschoss führende Holztreppe angetan. Dort bildete er die Exponate der Waiblinger Ziegelproduktion ab und skizzierte den Ausblick auf die im Süden des Hauses sich erstreckende Weingärtner Vorstadt, um mit einem weiteren Außenbild – diesmal aber aus dem Erdgeschoss, den Blick nach innen zu werfen, wo der Maler Niele Toroni sein auf den einfachen Vorgang des Malens reduziertes Verfahren and der Wand demonstrierte. Weitere Beispiele aus der Rendez-vous-Serie wie die Klotzfußkanone des englischen Künstlers Paul Bradley fanden ebenso Eingang in das Buch wie die „Radstube“ von Erich Lutz. Das Buch endet auf der Umschlagrückseite mit der drastischen Darstellung auf einem gestalteten Ziegel, der die Inschrift „Musst Du Allen Dreck Sehen“ trägt und einen seine Notdurft verrichtenden Mann darstellt.

Mit dieser durchaus ironischen Distanz, gepaart mit der spürbaren Begeisterung für ein faszinierendes Gebäude ist es dem Zeichner Matthias Beckmann bestens gelungen, das Wesentliche der Museumskonzeption mit linearen Strichzeichnungen festzuhalten und einen Gang durch das alte Haus zu ermöglichen, der dem Betrachter des Buches entgegenkommt und zur Entdeckungsreise einlädt.

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