Gabriele Beßler

Wo ist die sichtbare Welt?

 

Es gilt sich kurz zu fassen, will der Text nicht dem Umfang der nachfolgenden Zeichnungen nacheifern, zudem handelt es sich hierbei ja auch um ein Bilderbuch: Die Wörter und Worte haben demzufolge züchtig in den Hintergrund zu treten. Obwohl – besonders bei den Druckerzeugnissen für die Kleinen und Heranwachsenden ist es ja meist umgekehrt: zuerst hat jemand etwas geschrieben oder sich einen Plot ausgedacht, und dann erst lassen sich Illustratoren Bilder dazu einfallen. Aber ehrlich gesagt: die Vertreter jener Zunft können (oder wollen?) den Text meist gar nicht getreulich abbilden. Eher verselbständigen sich die kleinen Zeichnungen oder gar über ganze Seiten gehenden Bildbegleitungen; manchmal scheint es, als ginge die Phantasie mit den Künstlern durch, oder sie nutzten einfach die Gelegenheit, ihre Version dessen zu zeigen, was zwischen den Zeilen steht, was aber bisher noch niemand erkannt hat. Immerhin gibt es inzwischen ja auch unzählig verschiedene Bebilderungen etwa der Grimmschen Märchen, der Erzählungen Wildes oder der jüngeren Klassiker von Kästner über Lindgren bis Nöstlinger oder Ende. Da wollen die Künstler auch mal was Neues zeigen. Nur Carle bleibt eben Carle und Janosch hat wohl auch noch niemand ‚gecovert’. Oder etwa doch? Immerhin sind das Autoren-Illustratoren, sie hatten es mit der gleichzeitigen Text- und Bildgestaltung im Griff, einen in sich geschlossenen Wort- und Bildkosmos zu schaffen – und in den dürfen eben nur die Leser/Betrachter eindringen.

In unserem Fall war nun ausnahmsweise zuerst ein Zeichner am Zug, und die Wörter mögen nun – wie gesagt unzulänglich zweifelsohne – folgen, auf der Suche nach dem Sinn ‚dazwischen’. Matthias Beckmann also hat sich mit seinen Schwarzweißzeichnungen (nein, das Buch wird nicht ausgemalt, auch wenn es in den Fingern juckt!) dem Orbis sensualium pictus, der „sichtbaren Welt“ verschrieben. Gleich eingangs gibt er das jedenfalls vor. Damit ist ein Buch aus dem 17. Jahrhundert gemeint, eines der ersten Bilderbücher überhaupt, wenn auch nicht ganz im heutigen Sinne. Eigentlich ist es eine Schulfibel mit reichlich (u.a. lateinischem) Text. Vor allem Knaben sollten damit einst etwas von der Welt, der irdischen wie der göttlichen, kennenlernen. Nun, einige hundert Jahre später, wird diese Anleitung zum Sehen wieder zum Ausgangspunkt einer ganz speziellen Weltbetrachtung.

Also, wir nähern uns dem Gebäude, worin das Bilderbuchmuseum untergebracht ist, nicht ganz arglos, schließlich glauben wir zu wissen, was uns erwartet: Bilder in Büchern eben. Erst einmal schreiten wir jedoch, angeleitet von vagen Strichen, über Treppen in das etwas altertümlich wirkende Haus, schauen in Räume mit Bildern an den Wänden, beobachten Familien und Kinder beim Betrachten dieser oder bewegter Videobilder, aber auch beim Hören von Kassetten, denn längst haben natürlich auch neue Medien Einzug gehalten. An anderer Stelle grinst uns am Ende einer Vitrinenflucht ein ausgestopfter Bär entgegen. Tja, aber Bücher, Bücher sehen wir in diesem Museum erstaunlich wenig. Statt dessen tauchen wir in ein Labyrinth ein, das bei aller Offenkundigkeit des Sichtbaren das Unsichtbare, das Zwischen-dem-Eigentlichen-Liegende beleuchtet. Oder geht es vielleicht eher um das, was sich außerhalb des Eigentlichen befindet? Das Eigentliche wäre in unserem Fall ja die fiktive Welt zwischen den Buchdeckeln. Also welche Welt eröffnet uns der Zeichner denn nun, eine äußere Welt in der inneren oder umgekehrt, oder haben wir hierin eben die sichtbare Welt zu erkennen, die wir aber bisher noch nie so richtig wahrgenommen haben?

Schau’n wir mal genauer hin: Beckmann sah Tische und Stühle steh’n und zeichnete sie ab. „Was soll damit ein Kind, dem man einen Tisch oder einen Stuhl abbildet? Was es in dem Buch sieht, das ist ihm ein Stuhl und ein Tisch, größer oder kleiner, es ist ihm nun einmal ein Tisch, ob es daran oder darauf sitzen kann oder nicht ...“ Von dieser Empörung angesichts zeitgenössischer Bilderfibeln angetrieben, die solcherlei mit der Bemerkung „1/3, 1/8, 1/10 der Lebensgröße“ nebst moralischen Belehrungen feilboten, womit Kinder jedoch nichts anfangen könnten, setzte sich der Arzt Heinrich Hoffmann in Frankfurt so um 1843 daran, selbst ein Buch zu verfassen: heraus kam der Millionseller Der Struwwelpeter. Für den Autor und Zeichner in einer Person war klar, eine lebendige Figur mußte her, mit deren Mißgeschicken und Erfolgen sich die kleinen Racker identifizieren konnten. In der Anschaulichkeit liege die Erkenntnis und von dem Motto: „Gebrannter Finger scheut das Feuer“ ließen sich schließlich Generationen hinreißen. Da wird dann plötzlich auch einiges klar: Genau diese und ganz andere Geschichten zwischen den Einbänden der Bücher im Museum, deren Fülle uns der Zeichner hier tückischerweise vorenthält, muß man sich schon selbst erobern. Genau für diesen Zweck stehen sie da, die Tische und Stühle, woran oder worin man sich niederlasse, um es bequem zu haben beim Lesen! Und siehe da: Plötzlich wimmelt es in unserem Blickfeld nur so von Bilderbuchfigurinen, ganz als hätten sich Buchdeckel zu einem Tag der offenen Tür entbreitet: ein Knabe in biedermeierlichem Habit kauert in der Ecke und kleine Elfenkinder bevölkern die Zeichenblätter. Das Labyrinth der Räume, durch das uns Meister Beckmann leitet, kulminiert schließlich in einem Knäuel uns allen aus mannigfachen Büchern vertrauten Umrissen. Und dieses wichtige Blatt, wie sollte es anders sein, schlummert seinerseits in einem weiteren Bilderbuch: eben jenem, das wir nun aufgeschlagen haben ...

Aber schon hebt eine neue Geschichte an, deren Fortgang sich allerdings erst erahnen lässt. Nun weitet sich die Perspektive wieder zu Raumfluchten: da stehen Farbeimer herum, es wird gewerkelt und geschraubt, Kisten und Leitern versperren den Weg. Kurz bleibt der Blick an einem Fenster hängen, wie zufällig schaut man nach draußen – da ist ja noch eine Welt, die nämlich, die uns täglich umgibt, die hätte man beinahe vergessen. Schon schweifen die Blicke nach innen und verlieren sich wieder im Labyrinth – einer weiteren sichtbaren Welt? „Aller Form nämlich, allem Umriß, den der Mensch wahrnimmt, entspricht er selbst in dem Vermögen, ihn hervorzubringen“, so einfach könnte man das mit Walter Benjamin bejahen. Oder orientieren wir uns an den pädagogischen Wertmaßstäben des Bilderbuchkenners Gustav Pauli vom Beginn des 19. Jahrhunderts, der davon abrät, „unseren Kleinen ... ästhetische Vorträge zum besten zu geben. Im Gegenteil – je weniger geredet wird, desto besser ... Ganz in der Stille würden dann in empfängliche Gemüter die Keime gelegt werden zu jenem Unterscheidungsvermögen zwischen dem künstlerisch Wertvollen und Wertlosen, das man den guten Geschmack nennt. Gute Bilderbücher können viel dazu beitragen.“ Ein Letztes noch, bevor endlich wohliges Schweigen und seitenwendendes Schauen ist: Mögen Meister Beckmanns Zeichnungen viele empfängliche Gemüter jedweden Alters beschieden sein.

 

 

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