Freya Mülhaupt

Raum, Blicke

Die Berlinische Galerie in Zeichnungen

 

Kurz nachdem die Berlinische Galerie ihr neues Haus in der Alten Jakobstraße eröffnet hatte, luden wir Matthias Beckmann ein, bei uns in den gerade bezogenen Räumen zu zeichnen. Seine Museumszeichnungen aus anderen öffentlichen Sammlungen waren uns aufgefallen, und seine Fähigkeit allein mit dem einfachen Gestaltungsmittel der Linie viel auszudrücken, hatte uns beeindruckt.

Von seinen zahlreichen Erkundungsgängen durch die Berlinische Galerie im Frühjahr 2005 und noch einmal Anfang 2009 brachte er mehr als 170 Zeichnungen mit: Einzelbeobachtungen, für die der Zeichner mal die Architektur mit ihren Sichtachsen und der zentralen, freitragenden Treppe, mal die Kunst selbst, ihre Inszenierung und ihre Betrachter, in den Blick genommen hatte. Auch hinter die Kulissen ist er gegangen, hat sich in Depot- und Arbeitsräumen umgesehen und auch die Baustellen nicht ignoriert, die sich beim Wechsel von Ausstellungen ergeben.

Wie ein Besucher kam Matthias Beckmann während mehrerer Wochen in die Berlinische Galerie, schlenderte mit einem Skizzenbuch mittleren Formats (35,5 x 26,8 cm), Bleistift und wachem Blick durch die Räume, wählte einen Standort und zeichnete vor dem Motiv – zügig und ohne Korrektur. Doch trotz dieses raschen und unmittelbaren Zugriffs haben seine Zeichnungen nicht den Charakter schnell hingeworfener Skizzen. Beckmann führt den Bleistift kontrolliert über das Papier, mit sicher gezogenen Linien baut er das Bild, definiert den Raum, die Gegenstände und Figuren in ihm, ohne Schraffuren und ohne Schatten, nur durch die reine Konturlinie. Diese Linie umreißt mit immergleicher Stärke Nahes und Fernes gleichermaßen und vermittelt die Bildinformationen in knapper und doch unmittelbar erkennbarer Form, so wie es Buchillustrationen oder Cartoons gewöhnlich tun. Immer führt Beckmann seine Zeichnung bis an die Blattgrenzen heran, häufig lässt er ihre Linien darüber hinaus schießen. So werden die von den Papierrändern überschnittenen Darstellungen über den tatsächlichen Bildausschnitt hinaus erweitert und zugleich dynamisiert. Oft wirken seine Blätter, als seien sie im Gehen entstanden, als wollten sie die durch die Bewegung sich ergebende langsame Verschiebung des Gesichtsfelds und des wahrgenommenen Raumausschnitts sichtbar werden lassen. Unwillkürlich stellt sich dann der Eindruck einer Kamerafahrt ein. Andere Zeichnungen, die ein Detail aus einem Kunstwerk herausgreifen, erinnern an Close-ups. Einige Blätter nehmen sich aus wie fotografische Schnappschüsse, in denen die leise Komik eines flüchtigen Moments reaktionsschnell bewahrt wurde, wiederum andere lassen mit der Fokussierung verschiedener Details aus unterschiedlichen Blickperspektiven an Kameraschwenks denken. Bei aller Lesbarkeit ist den Zeichnungen immer etwas Vorläufiges, Unabgeschlossenes eigen, etwas, das über sie hinaus weist. „Das Ideal“, so Beckmann, „ist die konzentrierte Zeichnung wie aus einem Guss, detailliert und dennoch offen.“

Für diesen Katalog hat Matthias Beckmann 29 Zeichnungen ausgewählt. Ihre Auswahl und ihre Anordnung führen in einem virtuellen Rundgang vom markanten Museumsvorplatz in das tief fluchtende Foyer, treppauf und treppab durch die Ausstellungsräume, dann in die Restaurierungswerkstatt voller Tische, Geräte, Staffeleien und Bilder und schließlich, mit dem Motiv der letzten Katalogabbildung, ins Museumscafé (S. 37). Auf jedem Tisch steht dort die Bierflasche mit den zwei Rosen - ein in die Realität zurückgeholtes Detail aus einem Gemälde von Otto Dix, das im Obergeschoss der Berlinischen Galerie hängt. Das lebensgroße Bildnis Iwar von Lückens findet sich wieder in einer Zeichnung, die den armen Poeten mit zwei Museumsbesucherinnen zusammenbringt und ihm in seinem Bildraum nicht weniger Präsenz zubilligt als den zwei Frauen, die im Museumsraum vor ihm stehen (S. 27). Läuft hier die Begegnung zwischen Kunst und Publikum offensichtlich ins Leere, so verliert das Thema Kunst und Betrachter seine vertrauten Konturen vollends, wo auf einem anderen Blatt eine Museumsbesucherin und die Kunstfiguren aus Edward Kienholz’ „Art Show“ aufeinander treffen - ohne den Rahmen, der bei Dix noch Kunst von Nicht-Kunst scheidet (S 14).

Und die anderen Besucher, die Beckmann beobachtet hat, wie sie sich über eine Vitrine beugen, vor einem Bild, einer Skulptur, inmitten einer Installation stehen? Sind sie als Betrachter nicht ein Spiegel unserer selbst, die wir nicht nur die Zeichnungen betrachten sondern mit ihnen auch die Kunstobjekte, wie der Zeichner sie wahrgenommen und subtil kommentierend in seine Liniensprache übersetzt hat?

Matthias Beckmann entführt uns in einen Irrgarten der Linien, in ein Labyrinth der Blicke. Er zeichnet gern in Museen, weil diese öffentlichen Räume für die Kunst und ihre Betrachtung seinem Auge und seinem Stift eine Fülle einzigartiger, merkwürdiger und auch fragwürdiger Objekte bieten, weil er dort gewissermaßen natürliche Modelle findet - Besucher, die sich gemessen bewegen und oft innehalten –, und weil sich dort manchmal so unvermutete Perspektive auftun können wie in der Berlinischen Galerie, wo plötzlich, im Vorbeigehen, zwei in ihrer Ästhetik und künstlerischen Haltung unvereinbare Museumsbilder optisch aneinander geraten (S. 17), und, nicht zuletzt, weil dort auch immer wieder Besonderes mit Gewöhnlichem, Bedeutendes mit Beiläufigem zusammen stößt. Der Zeichner hat einen Blick für solche Kollisionen. Seine nie vordergründig zur Schau gestellte Neigung zur Subversion und seine Respektlosigkeit vor Hierarchien tritt dort zutage, wo er die Klebebandrolle der Firma Hasenkamp mit dem Bild eines imponierenden Engels auf einem Blatt zusammen bringt, oder dort, wo er unter all den Restaurierungsutensilien auch das Piktogramm eines Teddybären auf einem Babyflaschenwärmer präzise registriert. (S. 31 und S. 34).

Fast unmerklich tritt Beckmann in einigen seiner Werke selbst ins Bild: In einer Lupenbrille spiegeln sich seine Hände mit dem Zeichenstift (S. 34); untätig dagegen seine Hand auf dem leeren Skizzenbuch und vor einem Motiv, das mit seiner Unruhe und in seiner Komplexität den Zeichner zwar zögern, aber ersichtlich nicht kapitulieren lässt (S. 25), und schließlich  untereinander auf einem Blatt die Konfrontation von (abgebildeter) Realität und ihrer (gezeichneten) Abbildung (S. 13) – Selbstdarstellungen und Selbstreflexionen eines Künstlers, der einmal gesagt hat: „Zeichnen ist Nachdenken mit dem Stift.“

Matthias Beckmann hat in Anspielung auf das Buch von Rolf Dieter Brinkmann „Rom, Blicke“ für diesen Katalog den Titel „Raum, Blicke“ gewählt. In den tagebuchartigen Aufzeichnungen Brinkmanns, einer Collage disparater Beobachtungen, die ein vielschichtiges, facettenreiches und doch Fragment bleibendes Bild der „ewigen Stadt“ entwerfen, erkannte er Parallelen zu seiner eigenen Wahrnehmungs- und Darstellungsweise. Wie die Texte Brinkmanns, der einmal einen „Film in Worten“ schreiben wollte, so kreisen auch Beckmanns grafische Niederschriften um subjektive, visuelle Eindrücke: Seine Zeichnungen führen in ein Labyrinth der Wahrnehmung hinein.

 

 

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