Christoph Peters

Erdmenger folgt einer Linie

 

Die beiden bronzenen Löwen rechts und links der Treppe zum Eingang sahen an Erdmenger vorbei über die stark befahrene Straße und den kleinen, mit Pflanzenkübeln begrünten Platz. Trotz der dunklen Patina, die ihnen Ernst und Würde verlieh, verkörperten sie kaum mehr als den Nachhall babylonischer Pracht, dem Erdmenger in gewohnter Weise begegnete: Das Skizzenbuch in der einen, den Bleistift in der anderen Hand fing er sie in einem Netz aus Linien, denen keinerlei Gestimmtheit anzumerken war, während er selbst trotz seiner beachtlichen Größe bis an die Grenze zur Unsichtbarkeit schwand. Nachdem er einige Ansichten der Löwen zu Papier gebracht hatte, wandte er sich neueren Fragmenten von Körpern zu, die im Außenbereich des Museums aufgestellt waren und von Mühsal und Gefangenheit menschlichen Daseins erzählten. Dahinter, in zerbrochenen Fluchten, spiegelten sich die rechtwinklig aufgeteilten Fassaden des Anbaus, der bald abgerissen werden würde. Es schien, als hätte eine kurzentschlossene Bewegung im Erdinneren den Grund, auf dem sie errichtet worden waren, gefaltet wie der Architekt die Kartons für das Modell. Erdmenger ging nicht davon aus, daß dem, was er sah, eine weiterreichende Bedeutung innewohnte, oder daß es sich um wie auch immer geartete Vorzeichen für seine Arbeit handelte.

Er war von der Bundeszentralstelle für Dokumentation, deren Platz im verästelten Gefüge der kommunalen, regionalen und nationalen Kulturträger sich nicht genau bestimmen ließ, eingeladen worden, in diesen letzten Tagen vor Beginn der Sanierung und Neugestaltung eine zeichnerische Bestandsaufnahme alles Vorhandenen durchzuführen. Erdmenger trat verhalten zuversichtlich in die Eingangshalle. Eine Nackte aus Stein schaute im gelassenen Hochmut der Schönheit von ihrem Sockel herab. Die alte Frau im Kassenhäuschen schlief. Das Glas, hinter dem sie ihren Platz hatte, war schalldicht, so daß sie, um zu verstehen, was Erdmenger sagte, eine Sprechtaste hätte betätigen müssen, doch auch sein mehrmaliges Klopfen drang nicht zu ihr durch. In regelmäßigen Abständen hob sich das Kinn von einem langgezogenen Schnarchen, um dann schwer auf die Brust zurückzufallen. Erdmenger sah aus Gründen des Taktgefühls davon ab, sie zu erfassen.

Halbverdeckt von Mauervorsprüngen machte er einige verlorene Gestalten aus, die in Gedanken oder Bücher vertieft an den Tischen der provisorischen Cafeteria saßen. Eine seltsame Beklemmung hatte sich des Gebäudes bemächtigt, als hätte es eine dunkle Ahnung, daß schon bald nichts mehr sein würde wie vorher.

Erdmenger beschloß, seinen Gang durch die Ausstellungsräume unangemeldet zu beginnen. Zunächst wollte er sich den Zoologischen Abteilungen zuwenden. Das Museum in D. galt als einer der letzten erhaltenen Orte eines humanistischen Universalismus, in dem Exponate aus sämtlichen Bereichen der Kunst und Forschung von der Vor- und Frühgeschichte bis in die Gegenwart unter einem Dach präsentiert wurden, um ein umfängliches Bild der Welt und der Bewegungen des Menschen in ihr zu entwerfen. Allerdings hatten sich während des vergangenen Jahrhunderts die Kenntnisse in allen Gebieten des Wissens sowie die Ausdrucksweisen und Spielarten der Künste derart vermehrt, daß jeder Versuch einer Gesamtschau nicht nur zum Scheitern verurteilt war, sondern eine ebenso anrührende wie naive Gestrigkeit ausstrahlte. Beinahe unbemerkt hatte sich das Museum als Ganzes darüber zu seinem eigenen Ausstellungsobjekt verwandelt, ein skurriles Gebilde aus lange zurückliegenden Zeiten, in denen alles, was in der Existenz gewesen und darüber gedacht worden war, zueinander in Beziehung gestanden hatte. In gewissen Kreise wurde die Erdmenger’sche Linie, die ihre Gegenstände ohne Unterschied erfaßte und verband, als ein Akt des Widerstandes gegen das Auseinanderfallen der Wirklichkeit in getrennte Bereiche betrachtet.

Erdmenger betrat die Sammlungsräume und der uralte, über Jahrzehntausende eingebrannte Schrecken des Menschen in der afrikanischen Savanne schoß ihm in die Glieder, als er sich wiederum einem Löwen gegenüber sah, diesmal einem leibhaftigen Exemplar in voller Größe und Majestät. Erst Sekundenbruchteile später begriff er, daß das Tier, in dessen Blick ungebändigte Wildnis aufflammte und dessen Muskulatur gespannt schien wie unmittelbar vor dem Sprung, sich in einer Glasvitrine befand. Das Fell, das der Präparator einst über einen sorgfältig aufgebauten Kern gezogen hatte, war stumpf geworden, an mehreren Stellen fehlten Haarbüschel. Erdmenger trat näher heran, beugte sich vor, sah seine eigene Gestalt im bernsteinfarbenen Auge des Löwen gespiegelt, als eine Hand ihn von hinten am Ärmel riß und eine Stimme fauchte: „Zurück!“

Das Wort wurde mehrfach von den hohen Wänden hin und her geworfen, ehe es verhallte. Erdmenger schüttelte die angeschwollenen, blau unterlaufenen Finger ab, schaute auf die gedrungene Gestalt in Uniform, die er um beinahe zwei Köpfe überragte, und sagte: „Was gibt es denn?“

„Haben Sie eine Erlaubnis?“

„Soweit ich weiß, liegt ein Schreiben von Kulturdezernent Eggenschwiler vor.“

„Und wenn es vom Bundeskanzler persönlich wäre: Der Abstand muß einhalten werden.“

Nach Möglichkeit ging Erdmenger Konflikten mit Angestellten der Institute, in denen er tätig wurde, aus dem Weg, schon, um den Fluß der Linie nicht ins Stocken zu bringen. Auch in diesem Fall schien es ihm günstiger, handfesten Streit zu vermeiden: „Natürlich“, sagte er in freundlichem Ton, „da haben Sie vollkommen recht.“

„Ich kann keine Übertretung dulden, und bei Ihnen bestimmt nicht.“

Der Mann versuchte eine scharfe Kehre auf dem Absatz, verlor das Gleichgewicht und fing sich mit einem Ausfallschritt: „Solange Sie sich in meinen Räumen aufhalten, gelten die Vorschriften. Auch für Sie!“

Erdmenger  nickte und vervollständigte seine Zeichnung. Anfangs umkreiste der Wärter ihn wie eine Hyäne das Aas, solange die Löwinnen fraßen, aber nach einer Weile nahm seine Anspannung ab. Schließlich sank er auf den Stuhl neben dem Durchgang, der seine Reviergrenze markierte, und verfiel in dumpfes Brüten, das von gelegentlichen Selbstgesprächen unterbrochen wurde.

Schimmelflecken und Salpeterkränze oberhalb der Fenster zeigten an, daß das Gebäude tatsächlich dringend einer Sanierung bedurfte. Ein Geruch, wie ihn die Pelze seiner Großmutter verströmt hatten, hing in der Luft. Die Feuchtigkeit des Mauerwerks mischte sich mit den Ausdünstungen der Tierpräparate in den altertümlichen Dioramen, die in fehlfarbig gemalten Hintergrundlandschaften mit kargen Pflanzennachbildungen, Gipsfelsen, modellierten Wasserläufen die Fauna der verschiedenen Erdteile in den wichtigsten Arten vorstellten. Die Polarregion, Südamerika und Australien waren bereits ausgeräumt. Erdmenger beschloß, in Afrika zu bleiben, nahm sich Strauße, Antilopen und Zebras vor, deren Streifen die Tiefe des Raumes verdeutlichten, ohne daß er sie eigens markieren mußte. Anschließend erfaßte er Schaukästen zu verschiedenen Themenkomplexen der Biologie: Käfer, Tagfalter, Heuschrecken, Spinnenartige; außerdem Präparate und Modelle von Kauwerkzeugen, Atmungsorganen und Gehirnen. Gegen ein Uhr bekam er Hunger und gestattete sich eine Mittagspause. In der Cafeteria wies ein krakeliger Schriftzug auf einer vorzeitlichen Schultafel darauf hin, daß die Bewirtschaftung bereits eingestellt worden war. Immerhin hatte man zwei Verpflegungsautomaten zurückgelassen. Erdmenger zog einen Espresso sowie einen Schokoriegel und setzte sich.

Am Nachbartisch werkelte ein Mann in einer Expeditionsweste vor sich hin, dem das Haar in fettigen Strähnen am Schädel klebte. Neben ihm standen mehrere Stapel Holzkisten, die er der Reihe nach beschriftete. Erdmenger vermutete zunächst, daß er zum Museum gehörte und Vorbereitungen für die Auslagerung der Sammlungen traf, doch seine Erscheinung und die Art der Konzentration, mit der er die Kisten behandelte, paßten weder zu einem wissenschaftlichen Mitarbeiter noch zum Hausmeister.

Erdmenger hatte ihm bereits geraume Zeit zugeschaut, als der Mann den Kopf hob und sagte: „Das ist eine Arbeit von 1968, eine Edition. Aber dafür ist eine so große Nachfrage da, daß ich sie immer wieder machen muß. Es gibt schon über 12.000 Stück.“

„Das ist eine Menge.“

„Es sind zwei Ebenen. Eine ist begrenzt und eine ist nach links hin offen. Hier oben steht Intuition. Also ein kleiner Raum – ein geschlossener Raum mit diesem Begriff.“

„Heißt das, daß jeder sich selbst etwas hineindenkt?“

„Das heißt es auch.“

„Sozusagen intuitiv?“

„Ja. Daß einem etwas einfallen muß. Daß man mit dem Denken beginnen muß, daß man etwas in sich bewegen muß.“

„Aber es geht ins Leere.“

„Genau. Es muß ja ins Leere führen.“

Erdmenger sah den Mann fragend an.

„Schauen Sie: Es gibt zweierlei Dinge: Einen materialistischen Wissenschaftsbegriff, der hat Scheuklappen. Und es gibt ein anderes Ding. Das führt in ein noch unbekanntes Gebiet. Das eine muß durch das andere erweitert werden… So in etwa, wenn man es naiv formuliert. Eigentlich muß man den Vorgang weiter zurückverfolgen, da wo er noch gar kein äußeres Bild ist – aber durchaus Bild. Die Idee ist ja nicht einfach nichts, sondern die Idee ist ein Begriff und der hat auch ein Bild zu seiner Voraussetzung. Diese Art von Gewissenhaftigkeit ist heute viel wichtiger als je zuvor. Dadurch erweitert der Mensch das Verständnis von sich selbst und erkennt sich als den Träger geistiger Kraftzusammenhänge, der auch, wenn er sie spürt, Verantwortung übernehmen kann. Viele Menschen wollen heute Verantwortung übernehmen, aber sie wissen nicht, mit welchen Mitteln. Sie können nur Verantwortung übernehmen für ein Schweinekotelett…“

„Entschuldigen Sie“, unterbrach Erdmenger die Ausführungen, „hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie zeichnen würde?“

Der Mann wirkte eine kurzen Moment irritiert, fing sich aber sofort wieder und lachte: „Natürlich können sie es versuchen, nur daß es wahrscheinlich nicht klappen wird.“

Er wandte sich erneut seinen Holzkisten zu. Erdmenger sah davon ab, ihn zu zeichnen, zumal er offenkundig doch nicht zum Haus gehörte, und verabschiedete sich, um seine Arbeit in den kunstgeschichtlichen Sammlungen fortzusetzen.

In der Gemäldegalerie hielt sich kein Mensch auf, weder Besucher noch Angestellte, die Auszugsvorbereitungen trafen. Selbst das Wachpersonal war abgezogen worden. Die Bilder – Heilige, Götter, Portraits, Landschaften und im Zentrum der Fluchten Iphigenie, überlebensgroß mit verhangenem Blick auf unbewegtes Meer – vermittelten den Eindruck, als wären sie seit Langem von niemandem betrachtet worden. Erdmenger spürte, daß die Gemälde bereits an Kraft verloren und anfingen, mit der Umgebung zu verschmelzen, wie Lebewesen, die nicht mehr wahrgenommen wurden. Auch wenn es nie ausdrücklich in den Vereinbarungen über seine Arbeit geschrieben stand, wurde er in der Regel deshalb engagiert, weil er in der Lage war, Dinge, die aus der allgemeinen, schließlich aus jedweder Aufmerksamkeit gefallen waren und zu verschwinden drohten, festzuhalten.

Auf die Gemälde aus älterer Zeit folgten Skulpturen, eine Art Wald aus Stelen, Totempfählen, denen die Geister abhanden gekommen waren. Der Schädel eines Einhorns deutete in eine bestimmte Richtung, reichte jedoch nicht als Beweis. Je weiter Erdmenger vordrang, desto deutlicher zeigten sich die Spuren des Verfalls. Herausgerissene Kabel hingen aus Löchern in den Wänden. Die Jutebahnen, mit denen man die Räume vor Jahrzehnten ausgekleidet hatte, lösten sich ab und warfen schwere Falten: An manchen Stellen schlug Schimmel durch. Eine irre gewordene Überwachungskamera bewegte sich surrend und rot blinkend im Kreis. Teile der Sammlung waren bereits demontiert und fortgeschafft worden. Jemand hatte ein Zelt und Gerätschaften wie für eine Straßenbaustelle vorbereitet, als würden von hier aus demnächst Erdarbeiten durchgeführt – dabei befanden sich die Räume im zweiten Stock. Erdmenger gelangte in die Ausstellung von Ritualgegenständen eines Kultes, der Mitte des 20. Jahrhunderts, hauptsächlich in Europa verbreitet gewesen war. Der Meister dieser Bewegung, eine damals äußerst umstrittene Persönlichkeit, hatte Elemente aus Alchemie, Schamanismus, germanischen und christlichen Mythen zusammengefügt, sie mit Alltagsgegenständen und Gebrauchsgütern seiner Zeit verbunden, um verloren geglaubte Energieströme wiederherzustellen. Relikte kultischer Handlungen und magische Objekte befanden sich provisorisch geordnet in langen Reihen eng gestellter Glasvitrinen.

Erdmenger hatte schon häufig in ungewöhnlichen Einrichtungen gearbeitet. Neben Museen für die abseitigsten Spezialgebiete war er in Wunderkammern, automatisierten Fertigungsstraßen, anatomischen und pathologischen Instituten, Laboratorien und Parlamentsgebäuden gewesen, so daß er sich selten wunderte, geschweige denn fürchtete. Nahezu alles, was ihm im Lauf der Jahre begegnet war, hatte sich auf die eine oder andere Weise mit Papier und Bleistift einfangen lassen.

Zwei Arbeiter, die schweigend und langsam zentnerschwere Platten von einer Seite auf die andere räumten, ohne daß ihrer Betätigung irgend ein Sinn zu entnehmen gewesen wäre, beachteten ihn nicht.

Es ging bereits gegen vier Uhr, als Erdmenger entschied, die Schauräume zu verlassen. Um einen Überblick zu bekommen, was ihn in den nächsten Tagen erwartete, vor allem aber in der Hoffnung, einen Mitarbeiter zu finden, mit dem er die notwendigen Absprachen für sein weiteres Vorgehen treffen konnte, öffnete er eine Tür mit der Aufschrift „Zutritt nur für Personal“.

Eine befremdliche Lautlosigkeit, als beträte er eine Höhle, in der alles Leben seit Jahrmillionen erloschen war, hallte ihm entgegen. Nachdem er durch verwinkelte Treppenhäuser und Korridore gegangen war, lediglich vom Echo seiner Schritte verfolgt, Türen zu verwaisten Abstellkammern und Arbeitszimmern geöffnet hatte, in denen mittelalterliche Heilige zwischen Aktfiguren, Computerbildschirmen, Archivalien, Verpackungsmaterialien, Thermohygrographen abgestellt worden waren, nach Blicken in Räume, die mit leeren, stuckverzierten, goldglänzenden Rahmen zugehängt waren oder aus Wänden von Lochblechen voller Gemälde bestanden, die niemand mehr sehen sollte, stieß er in der naturgeschichtlichen Abteilung des Magazins auf einen Photographen, der unter dem schwarzen Tuch einer Plattenkamera steckte und Gläser mit Tierpräparaten in Alkohol- oder Formaldehyd-Lösungen ablichtete.

Beinahe lautlos schlug Erdmenger seinen Block auf und begann, die Figur des leicht untersetzten Mannes in nachlässiger Kleidung zu zeichnen. Erst nachdem er ihn bereits beinahe vollständig erfaßt hatte, fragte Erdmenger: „Sind Sie auch für die Zentralstelle hier?“

Es dauerte einen Moment, ehe der Photograph seine Überraschung abgeschüttelt hatte. Er nickte und sagte: „Merkwürdige Verhältnisse hier. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Vielleicht war es ein Fehler, sich darauf einzulassen.“

„Es scheint, als hätten sie schon mit dem Ausräumen angefangen.“

„Ist ihnen aufgefallen, daß die Leute sich allesamt wie Schatten verhalten?“

„Mich wundert eher, daß niemand hier ist, der die verschiedenen Tätigkeiten koordiniert oder für Rückfragen zur Verfügung steht. Allein die  Tatsache, daß ich Sie hier treffe...“

„Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, beziehungsweise sie haben das Schiff bereits verlassen. Wahrscheinlich wurden unterirdische Strahlenquellen geortet, Radium, Cäsium, Uran. Die Altvorderen haben ja alles eingelagert, was ihnen in die Finger kam. Das würde auch die sonderbaren Baustellen erklären. Oder giftige Chemikalien. Im günstigsten Fall ist das Gebäude asbestverseucht... Seit wann sind Sie hier?“

„Seit heute morgen.“

„Ich komme seit einer Woche. Ich schlafe kaum noch, trotz bleischwerer Müdigkeit, dazu Schmerzen in den Gelenken, Alpdruck.

„Warum brechen Sie nicht ab?“

„Ich brauche das Geld.“

Der Photograph verschwand wieder unter seinem Tuch, schwenkte die Linse des mächtigen Apparats in Erdmengers Richtung und begann, ihn scharf zu stellen.

„Bleiben Sie so“, sagte er.

„Ich muß noch das ganze Regal zeichnen. Sie sind bestimmt schneller als ich.“

Erdmenger fiel erneut in eine eigentümliche Art von Versenkung, die ihm selbst nicht bewußt war, geschweige denn, daß er sie gezielt herbeiführte. Er stand da, still und vollkommen regungslos. Sein Atem schien verlangsamt. Lediglich die Augen bewegten sich zwischen den Gegenständen vor ihm und dem Blatt hin und her. Gelegentlich verursachte die Spitze des Stiftes ein kaum vernehmbares Schabgeräusch auf dem Papier. Die Komplexität dessen, was zu sehen war, reduzierte er unter der Hand zu einem Linearauszug, einem Extrakt der Wirklichkeit auf der unmittelbaren Vorstufe reinen Geistes. Erdmenger selbst schien darüber zu verblassen, wurde beinahe durchscheinend, als wollte er verhindern, daß die Objekte oder Wesen, die er zeichnete, aufschreckten und flüchteten oder sich zierten, angstvoll verkrampften, eitel aufplusterten oder auf sonst irgend eine Weise ihr natürliches Verhalten änderten.

Im Unterschied zu Erdmenger wurde der Photograph zusehends unruhig. Immer öfter lugte sein Kopf unter dem Tuch hervor, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, er schnaubte, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, kurbelte die Ziehharmonika des Balgengeräts hektisch vor und zurück.

„Es geht nicht“, zischte er. „Ich kann Sie nicht erfassen. Jedenfalls nicht mit photographischen Mitteln...“

Erdmenger schwieg.

„…das Kartell der Zeichner.“

Erdmenger reagierte nicht.

„Sind Sie einer von diesen Leuten, die seit Jahren daran arbeiten, daß unsereins keine Aufträge mehr bekommt?“

Erdmenger schüttelte den Kopf, weniger als Antwort auf die Verdächtigungen des Photographen als wegen der vollständigen Absurdität der Situation, und wandte sich Tieren aus dem Nordeuropa-Diorama zu, die hier zwischengelagert waren: ein Frischling, ein Rehkitz, ein Bärenjunges.

„Ich verlange, daß Sie das Blatt, auf dem Sie mich zeigen, aus Ihrer Dokumentation herausnehmen“, schnaubte der Photograph.

Erdmenger blieb bei seiner Entscheidung, sich auf keinerlei Auseinandersetzungen einzulassen, und zog sorgfältig seine Linien, die zu einem Paar Steckdosen wurden, einer gefliesten Anrichte.

In diesem Moment entfuhr dem Photographen ein schriller, langgezogener Schrei, als hätte eine umherirrende Tierseele oder ein Dämon von ihm Besitz ergriffen. Mit Kräften und einer Gewalt, die Erdmenger seinem eher schwächlich und ungelenk wirkenden Körper niemals zugetraut hätte, hatte er das hölzerne Stativ samt Kameraaufbauten beidhändig an den Füßen genommen, hochgehoben und ließ es nun mit voller Wucht und indem er den Schrei noch einmal steigerte, in das Regal  krachen. Es schwankte bedrohlich, fiel jedoch nicht zur Seite, während die oberen Blechböden wie unter den Handkantenschlägen eines Karatemeisters zusammengefaltet wurden, die äußeren Stangen einknickten, Batterien uralter Gläser mit Präparaten und Lösungen teils sofort barsten, teils nach vorn und zu den Seiten herunterstürzten, auf den Boden knallten, auseinanderflogen, verspritzen, als hätte es eine Bombenexplosion gegeben. Im Lauf der Jahrzehnte wächsern gewordene, in sich verkrümmte Schlangenleiber rutschten über den Boden, Föten von Elephanten, Nashörnern, Flußpferden, eine fünfbeinige Ratte, ein doppelköpfiger Affe, Egel, Quallen und Krebse schwammen in Pfützen übelriechender Tinkturen, die Generationen von Alchemisten, Chemikern und Quacksalbern zusammengerührt hatten, um die Zersetzung des Fleisches aufzuhalten. Der Photograph holte Luft und teilte weitere, jetzt weniger mächtige, dafür in immer kürzeren Abständen aufeinanderfolgende Schläge aus. Von seiner Kamera war nichts mehr übrig. Er führte das Kugelgelenk seines Stativs wütend wie einen Streitkolben und brüllte: „Ich lasse nicht zu, daß die Uhr zurückgedreht wird, niemals, nie! Ich bin die Zukunft!“ Was von den Regalen übrig war, kippte vornüber. Die letzten unversehrten Gläser und Flaschen zertrümmerte er mit gezielten Schlägen. Ätzende Dämpfe stiegen auf, bildeten ein ebenso giftiges wie explosives Gemisch. Erdmenger ergänzte noch einige Tupfen auf dem Fell des Kitzes, ehe er seinen Block zuklappte und den Photographen, der auf die Knie gesunken war und mit blutenden Händen in Scherben und Tierkadavern wühlte, sich selbst überließ.

Auf dem Weg hinaus sah er, daß auch in den Restaurierungswerkstätten, Lesesälen und Graphikkabinetten noch vereinzelt Leute ihren Beschäftigungen nachgingen. Erdmenger huschte trotz seiner mächtigen Gestalt vorbei, ohne daß jemand von ihm Notiz nahm. Er sah einen Berg von Schubladen mit der Zahl fünf, die aus ihren Schränken herausgerissen und ausgekippt worden waren, ausgestopfte Tiere, wahllos im Treppenhaus abgestellt. Auf einem Relief mit nackten Germaninnen stand „Ehre der Arbeit“.

Erdmenger verließ das Gebäude um kurz nach sechs. Die bronzenen Löwen waren im Lauf des Nachmittages eingepackt und verschnürt worden, um sie vor Beschädigung durch die Bauarbeiten zu schützen. Er ging die Straße entlang zum Bahnhof und nahm den nächsten Zug hinaus aus der Stadt. Anderntags wurde das Museum geschlossen.

 

 

 

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