Christoph Peters

Die Hieroglyphen des Herrn Beckmann

 

Am Anfang war die Höhlenzeichnung, ob sie schon Wort war, wissen wir nicht. Vielleicht enthielt der gezeichnete Stier wirklich die Seele des wilden Ur draußen im schneebedeckten Land, und vielleicht bekamen die echten Speere durch die vorgezeichneten Treffer eine größere Zielgenauigkeit. Nahezu alle magischen Rituale benutzen Abbildungen, um sich über Eingriffe am Bild das reale Lebewesen gefügig zu machen. Denn wer die Formen der Dinge beherrscht, beherrscht die Dinge selbst.

Einige tausend Jahre später betritt Adam, der erste biblische Mensch, d.h. der erste Buchmensch, den Garten Eden. Adam übernimmt die Macht, indem er unter dem wohlwollenden Auge Gottes die gesamte Schöpfung benennt. Zwischen dem Wort und dem von ihm benannten Gegenstand besteht keine sinnlich wahrnehmbare Beziehung. Das Wort ist Abstraktum schlechthin. Beschlösse eine Sprachgemeinschaft, den Löwen künftig Ziege zu nennen, würden Kinder, die damit aufwüchsen, alsbald beim Wort Ziege einen Löwen sehen. Eine gezeichnete Ziege jedoch werden sie nie für einen Löwen halten.

Beide Formen der Herrschaft unterwerfen die Welt menschlichen Kriterien, allerdings auf gegensätzliche Weise: Während die Zeichnung eine Annäherung an das innere und äußere Wesen ihres Gegenstandes sucht, unterwirft die Sprache alles Benannte der Grammatik, die letztlich eine Parallelstruktur des menschlichen Geistes ist – was immer man darunter versteht.

Zwischen diesen beiden Grundmodellen der Weltordnung vermittelte über lange Zeit die Schrift. Wann und wie sich die Verwandlung der magischen Annäherung an die Erscheinung in die normierten Zeichen der ersten Bilder-Schriften vollzogen hat, ist schwer feststellbar. Die Hieroglyphenschrift Ägyptens ist bereits in ihren ersten überlieferten Texten grammatikalisch vollständig. Vorstufen gibt es nicht, und im Laufe der nächsten drei Jahrtausende werden lediglich neue Wörter hinzukommen. Champollion schrieb am 17. September 1822, drei Tage nachdem er die Hieroglyphen entziffert hatte: „Es ist ein komplexes System, eine gleichzeitig figurative, symbolische und phonetische Schrift in ein und demselben Text.“ Konkret: Das Zeichen Ente zum Beispiel kann einfach „Ente“ heißen, in Kombination mit dem Zeichen Sonne bedeutet es „Sohn des Pharao“, also Pharao, und losgelöst von allen Bild-Bedeutungen ist es die Silbe „sa“. Die interessanteste Ebene ist zweifellos die symbolische. Das griechische Wort symballein heißt „zusammenwerfen“ und genau das geschieht hier: Zeichen, die keinen natürlichen Zusammenhang zu haben scheinen, werden zusammengeworfen und verbunden und erhalten in der Verbindung eine neue Bedeutung, die wenig oder nichts mit der ursprünglichen zu tun hat. Das ist eine Zwangsmaßnahme, ein Gewaltakt, jedenfalls wenn man es aus der Perspektive der Schreib- bzw. Zeichnungsobjekte betrachtet. Nicht die Dinge bestimmen, was sie bedeuten, sondern der Mensch, der sie nimmt, zusammenwirft und aneinanderkettet, ob es ihnen gefällt oder nicht. In den Hieroglyphen trifft sich die magisch-zeichnerische Vereinnahmung des steinzeitlichen Jägers mit Adams Machtergreifung durch Namensgebung. Beide Verfahren zeigen den Selbstanspruch des Menschen, Herrscher der Welt zu sein. Aber er übt seine Herrschaft nicht durch physische Gewalt aus, sondern indem er sich mithilfe der Zeichen Bedeutungshoheit verschafft. Deshalb gelten sowohl das Zeichnen als auch das Schreiben von Anfang an als sakrale Tätigkeiten. In ihnen vergewissert der Mensch sich seiner Sonderstellung. (Nebenbei: Das jüdische Bilderverbot unterstreicht ja im Grunde nur die Mächtigkeit der Bilder – wenn auch ex negativo.)

Die Ägypter nannten ihre Hieroglyphen (griech.: „Heilige Ritzungen“) „Stock Gottes“, wobei der Stock nicht der Züchtigung dienen sollte, sondern der Stütze. Die Bilder-Schrift ist sozusagen der von Gott geschnittene Wanderstab für den Weg des Menschen durch Raum, Zeit und Ewigkeit.

Ob die Zeichnungen Matthias Beckmanns Wörter sind, wissen wir nicht, aber es ist nicht ausgeschlossen. Vielleicht findet in tausend Jahren irgend jemand heraus, was da geschrieben steht, nachdem sich viele die Zähne daran ausgebissen haben. Beckmann wirft allerhand und sehr verschiedene Dinge zusammen: Kind, Mann, Frau; Gartenzwerg, Playboyhase, Quietschentchen; Tisch, Stuhl, Schüssel. Feierlich archaische Gesten verbindet er mit zeittypischen Emblemen, elementare Vorgänge mit Symbolfiguren der modernen Warenwelt. Die Zeichnungen tendieren zum Kürzel, individuelle Merkmale werden zugunsten allgemeiner ausgelöscht. Dabei spielt es keine Rolle, ob schlicht schwarze Tusche die Formen umreißt, oder aufwendige Schraffuren, grau oder farbig, den Blättern zusätzlichen Reiz verleihen. Auch darin unterscheiden sie sich nicht von den Hieroglyphen: Für den Text ist es von untergeordneter Bedeutung, ob er mit der Feder auf Papyrus geschrieben wurde, oder als farbig gefasstes Relief im Stein steht. Aber eine Akzentverschiebung findet doch statt. Während sich die rein linearen Blätter der Schrift annähern, neigen sich die ausgeführten dem beschwörenden Bild zu.

Auf den ersten Blick kommen die Zeichnungen freundlich daher, ihre Härte sieht man erst auf den zweiten. Freilich ist es eine defensive Härte. Denn Matthias Beckmann übt mit seinen Zeichnungen nicht mehr Herrschaft über die Dinge aus, sondern widersetzt sich hartnäckig der Selbstermächtigung der Zeichen. Längst sind uns Statussymbole, Logos, Schilder und Embleme so selbstverständlich geworden, dass wir sie als gegeben hinnehmen und weder ihre Funktion noch ihre Herkunft reflektieren. Wir stehen so gläubig und hilflos vor den lexikalisierten Zeichen wie der Steinzeitjäger vor dem Mammut. Der Zeichengolem droht, uns seine Gesetze aufzuzwingen, deshalb muß er selbst gezeichnet werden. Anders gesagt: Damit die Zeichen ihre ursprüngliche Aufgabe, dem Menschen die Dinge gefügig zu machen, nicht soweit umkehren, dass er ihnen im blinden Gehorsam vertraut, nimmt Beckmann sie auseinander, setzt sie in seinem Sinne neu zusammen und zeigt so, wer Herr im Haus der Bedeutungen ist. 

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