Christoph Peters

„...der will nur zeichnen.“
Zen in der Kunst von Matthias Beckmann  


Was Zen ist, vermag niemand in Worte zu fassen, gleichwohl sind ganze Bibliotheken darüber geschrieben worden. Allein im deutschen Verzeichnis lieferbarer Bücher finden sich gut 1200 Titel zum Thema. Eines der berühmtesten heißt „Zen ist die größte Lüge aller Zeiten.“ Es enthält Ansprachen und Aussprüche Sawaki Kōdōs (1880-1965), eines der einflussreichsten Zen-Meister des 20. Jahrhunderts, der darin alle theoretischen Überhöhungen des Zen für Unfug erklärt, wobei ihn die Schmerzgrenzen zartbesaiteter Sinnsucher aus dem Westen ebenso wenig scheren wie das komplexe Regelwerk japanischer Etikette. „Der Buddhaweg macht mit allem auf einmal Schluss“, heißt es da, „einschließlich der Illusion, einschließlich der Erleuchtung.“[1] Das klingt zunächst vielleicht enttäuschend, birgt aber andererseits eine gewisse Entlastung, insbesondere wenn sich „Erleuchtung“ bzw. „Satori“ trotz jahrelangen Bemühens einfach nicht einstellen wollen.

Beschäftigt man sich mit dem Einfluss der Geistigkeit des Zen auf die Kunst in Ost und West, kommen einem viele, durchaus sehr verschiedene Bilder in den Sinn, wobei sie allesamt ästhetischen Leitlinien folgen, die denen von Matthias Beckmann – zumindest vordergründig – völlig entgegengesetzt sind, die berühmten, scheinbar leichthändig getuschten Landschafts-, Bambus- oder Tierdarstellungen der Muromachi-Zeit fallen einem ein, Namen wie Sesshū (1420-1506), Bunsei (15. Jahrh.) oder Sesson (1504-1589), die selber Zen-Mönche waren; aus späteren Epochen vielleicht der emblematische Neuntöter des berühmten Schwertmeisters Miyamoto Musashi (1584-1645) oder Hakuin Ekakus (1685-1768) grimmig-groteske Portraits Bodhidharmas, des sagenumwobenen Begründers des Zen, der als „der Patriarch, der aus dem Westen kam“ durch die chinesisch-japanische Koan-Literatur geistert. All diesen Bildern gemeinsam ist ihre souveräne Reduktion komplexer Zusammenhänge auf wenige Striche und Wischer, die gleichsam ein Kondensat der Wirklichkeit enthalten. Zugleich scheinen diese Bilder die ebenso einzigartigen wie immerwährenden Momente zu bezeugen, in denen der Geist des Malers im selbstvergessenen Pinselschlag mit dem inneren Wesen eines Bambus oder eines Kormorans verschmolzen ist und so die verborgene Einheit allen Seins verwirklicht hat.[2] Daneben stehen die freien, manchmal wilden Kalligraphien, wie sie beispielsweise von dem streitbaren Zen-Meister und Dichter Ikkyū Sōjun (1394-1481) erhalten sind, der gezielt gegen alle Anstandsregeln seiner Zeit und seines Standes verstieß, um zu demonstrieren, dass der Zen-Geist unbegrenzt ist und sich nicht in die Formalismen erstarrter Klosterhierarchien sperren lässt.

Die Kalligraphie ist darüber von der „schönen Handschrift“ zur eigenständigen Zen-Übung geworden, praktiziert ebenso von Mönchen wie von kultivierten Samurai, Beamten und Kaufleuten, die – zumindest in der Theorie – jedes Mal, wenn sie die Tusche anrieben, den Pinsel eintauchten und über das Papier führten, Linie, Bedeutung und innere Bewegung der geschriebenen chinesischen Schriftzeichen für die Dauer eines Atemzugs ins immerwährende Jetzt brachten.

Insbesondere diese Art gestisch-abstrakter Zeichen-Kunst hatte nachhaltigen Einfluss auf die Malerei der westlichen Moderne. Ab den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts verband sich der freie Duktus fernöstlicher Pinselführung mit der psychoanalytisch geprägten Hoffnung auf das Unterbewusste als wahrhaftigsten Impulsgeber künstlerischer Prozesse zu malerischen Stilrichtungen, die unter Bezeichnungen wie Peinture automatique, Action Painting oder Abstrakter Expressionismus Eingang in die Kunstgeschichte gefunden haben. In den schwarz-weiß dominierten Gemälden Robert Motherwells oder Franz Klines tritt der Einfluss japanischer Schrift-Bild-Ästhetik offen zutage; der katalanische Maler Antoni Tàpies bezog sich auch in seinen theoretischen Äußerungen dezidiert auf die Geisteshaltung des Zen-Buddhismus.[3]

Mit der Popularisierung asiatisch-esoterischer Lehren einerseits und moderner Malstile anderseits fanden spontane Formfindungen jenseits überlieferter Qualitätskriterien ab den 70er Jahren als vermeintlich unverfälschter Ausfluss des wahren Selbst ihren Weg in Schulklassen, Kreativkurse und Selbsthilfegruppen, wobei traditionell-handwerklich orientierte Kunstauffassungen unter dem Vorwurf, es handele sich bei ihnen um „Kunstgewerbe“, zunehmend auch aus der Ausbildung an den Kunstakademien gedrängt wurden.

Was bei der spirituellen und psychologischen Überhöhung des Authentischen jedoch vielfach übersehen wurde, ist die Tatsache, dass in den überlieferungstreuen Künsten Asiens – insbesondere Japans – nahezu alles, was nach spontanem Ausdruck individueller Gefühlslagen aussieht, Ergebnis Jahrzehnte währenden Lernens ist, wobei dieses Lernen keinerlei Rücksichten auf persönliche Bedürfnisse oder Befindlichkeiten des Schülers kennt, sondern sich in der vollständigen Unterordnung unter das Diktat des Meisters beziehungsweise die Vorgaben der Überlieferung vollzieht. Persönlicher Ausdruck ist dementsprechend nur insofern Ziel der Übung, als der Weg des Lernens zugleich ein Prozess vollkommener Beseitigung aller widerständigen Eigenheiten ist, bis am Ende die Persönlichkeit des Schülers sämtliche Verhaftungen aufgibt und so in dem, was sie künstlerisch gestaltet, nicht mehr und nicht weniger als ein Ausdruck des Dharma  selbst wird, wie er sich in den Bewegungen jedes Wesens einzigartig aber auch gleichrangig manifestiert. Nichtsdestoweniger – und hier scheint eine der vielen Paradoxien auf, die dem Denken aus Zen eigentümlich sind – hat die jahrzehntelange Übung in vielen Fällen dazu geführt, dass der Schüler nicht nur auf der geistigen sondern auch auf der malerisch handwerklichen Ebene allmählich die Stufe der Meisterschaft erreichte, auf der die Kämpfe zwischen Bildgegenstand, Material und schöpferischem Geist befriedet sind und das Kunstwerk mithin in einem Akt souveräner Freiheit entstehen kann – womit wir bei der Kunst des Zeichners Matthias Beckmann angelangt sind.

Wer die Möglichkeit hat, Matthias Beckmann beim Verfertigen seiner Linearauszüge der Wirklichkeit vor Ort über die Schulter zu schauen, wird aus dem Staunen nicht heraus kommen, angesichts der wundersamen Vorgänge, die sich zwischen dem Auge des Zeichners, seiner Hand mit dem niemals stumpf werdenden Druckbleistift und dem weißen Blatt abspielen: In ruhigen, gleichwohl nicht langsamen, äußerst sorgsamen, jedoch nie zögerlichen Bewegungen bringt die Linie scheinbar von selbst zu Papier, was der Künstler als die entscheidenden Formen des vor ihm liegenden Szenarios ansieht. Alles entsteht aus dem einen einmaligen Moment, hängt zugleich ab von dem singulären Standpunkt, für den der Zeichner sich entschieden hat, bevor er den ersten Strich setzte. All das läuft spontan und in höchstem Maße subjektiv ab und ist doch denkbar weit entfernt vom ekstatischen Schaffensrausch des mit seinen Dämonen ringenden Genies, das die gängigen Klischees vom Künstler prägt. Während Matthias Beckmann dort steht und – einer zwingenden inneren Logik folgend – die Konturen von Menschen, Dingen und Raum erfasst, verkörpert er zugleich eine gesammelte Konzentration, die sich jeder nach außen drängenden Gefühlsregung entledigt hat. Er scheint in dem, was er tut, so sehr zur Ruhe gekommen, dass ihn die, die Gegenstand seiner Zeichnungen sind, nicht als störend oder gar Anstoß erregend wahrnehmen. Vielfach wird er, während er zeichnet, trotz seiner beträchtlichen Größe von einem Meter neunzig schlicht übersehen.

Matthias Beckmann lässt sich nicht von Gefühlen leiten, aber er setzt auch keine kühl durchdachten Konzepte um. Obwohl er sich dessen, was er als Zeichner tut, in hohem Maße bewusst ist, hat er keine geschmeidige Theorie, weshalb er das, was er macht, so und nicht anders macht. Interpretationen des eigenen Werks, die in diese und jene Epoche der Kunstgeschichte ausgreifen, gesellschaftspolitische Positionierungen oder philosophische Ableitungen vornehmen, liegen ihm gleichermaßen fern. „Ich zeichne halt, was so da ist“, sagt er, und dieser scheinbar so banale Satz führt geradewegs ins Zentrum dessen, was die ungelehrte Lehre des Zen von den Gedankengebäuden westlichen Zuschnitts ebenso unterscheidet wie von den vermeintlich authentischen Aufwallungen befreiter Emotionalität.

„Die Menschen lieben den Gefühlstumult,“ sagt Sawaki Kōdō. „Sieh dir nur die Filmplakate vor dem Kino an: ein einziger Gefühlstumult auf den Gesichtern. Buddhadharma bedeutet: sich nicht dem Gefühlstumult preiszugeben.“[4]

Da Matthias Beckmann als Zeichner weder an seinem eigenen Erregungszustand interessiert ist noch an der dramatisierenden Aufladung der ihn umgebenden Welt, hat er seine Linie im Laufe der Jahre von allem, was nicht sie selbst ist, bereinigt und so seine eigene handschriftslose Handschrift freigelegt. Diese handschriftslose Handschrift ist weder selbstreferentiell im Sinne einer wie auch immer gearteten kritischen Bestandsaufnahme dessen, was Zeichnen heute sein kann, noch ist sie Ausdruck einer trotzigen l’art pour l’art, die alle außerkünstlerischer Forderungen zugunsten der ihr eigenen Spielregeln ablehnt.

Das Zeichnen, wie Matthias Beckmann es betreibt, ist nicht mehr und nicht weniger als der existenzielle Lebensvollzug des Zeichners, elementar und unhinterfragbar wie das Atmen. Es hat keinen Grund und keine Absicht, es genügt sich selbst ohne sich in dieser Selbstgenügsamkeit zu erschöpfen. So gesehen gilt für das Zeichnen, was Sawaki Kōdō über die Praxis des Zazen (Sitzmeditation) sagt: „Die Kunst des Zazen liegt darin, einfach zu sitzen, ohne sich mit irgend etwas anderem abzugeben.“[5] Auf das Zeichnen übertragen erwachsen aus dieser Haltung sowohl eine immerwährende Aufmerksamkeit für alles, was da ist und sich im wahrnehmenden Bewusstsein spiegelt, als auch eine tiefe Indifferenz eben diesen Erscheinungen gegenüber: „Es gibt kein einziges Ding, das nicht Ausdruck der wahren Lehre wäre. Daran sehen wir, wie transparent die wahre Lehre ist“[6], sagt Sawaki Kōdō.

Insofern ist es folgerichtig, dass Matthias Beckmann den Orten, an denen er zeichnet – ganz gleich, ob es sich um ein Museum, eine Fertigungsstraße, eine Anlage des sozialen Wohnungsbaus oder den Deutschen Bundestag handelt –, unabhängig von ihrem Gewicht in der gewöhnlichen Welt, die gleiche Aufmerksamkeit schenkt. Im Blick des Zeichners ist die Buddhafigur so bedeutsam wie das Piktogramm des Notausgangs, die abgestellten Strohsandalen haben denselben Rang wie der kostbar ausgestattete Platz für die Teezeremonie. In ihrer Gesamtheit bilden sie die eine Wirklichkeit. Vor deren räumlicher Ausdehnung, die an die Unendlichkeit reicht, und ihrer zeitlichen, die erst in der Ewigkeit endet, ist ohnehin alles, ganz gleich, wie groß oder klein es ist und wie lang oder kurz sein Dasein währt, nur ein Bruchteil mehr als nichts. Doch das kurze Aufflackern reicht, um für immer gewesen und das heißt unvergänglich zu sein. Einige Schatten dieser Spuren von fast nichts fallen durch das Auge des Zeichners Matthias Beckmann als Linie auf die unendlich weiße Fläche des Papiers und machen sinnfällig, was es auf sich haben mag mit den Zentralsätzen des Hannya Shingyō (Herzsutras): „Oh Shariputra, Form ist leer und Leere ist (erscheint als) Form; Erscheinung ist nicht getrennt von der Leere, die Leere ist nicht gesondert von der Erscheinung; Form und Leerheit sind eins. Ohne Leerheit keine Form.[7]“ „Wenn du es in Worte fasst“, kommentiert Sawaki Kōdō, „bringst du eine Ordnung hinein. Wenn du es aussprichst, kommt eins vor dem anderen. In Wirklichkeit ist es gleichzeitig. In Wirklichkeit bedeutet hier: in der Praxis“[8] –  des Zeichners.

 


[1] Sawaki, Kōdō, Zen ist die größte Lüge aller Zeiten, S. 51, Frankfurt a. M. 2005

[2] „Wenn Yuke (Wen Tong) Bambus malte,

sah er den Bambus und nicht sich selbst.

Nicht einfach unbewusst seiner selbst,

sondern wie in Trance verließ er seinen Körper.

Sein Körper wurde in Bambus verwandelt

und erzeugte unerschöpflich frische Ursprünglichkeit.“

in: Helmut Brinker, Die chinesische Kunst, S. 102, München 2009

[3] „Im Lichte der Tschan-Lehre [d.h. Zen-Lehre] wird alles „geheiligt“, verwandelt, alles rückt an den richtigen Ort: der Kosmos, die uns umgebende Natur, die Landschaft, die menschlichen Beziehungen, der Geschlechtsakt, selbst die alltäglichen Tätigkeiten von der Art und Weise des Kochens und Essens bis zu den als „unfein“ geltenden Körperfunktionen.“

in: Tàpies, Antoni, Die Praxis der Kunst, S. 63, St. Gallen 1976

[4] Sawaki, Kōdō, An dich, S. 13, Frankfurt a. M. 2002

[5] Sawaki, Kōdō, Zen ist die größte Lüge aller Zeiten, S. 50, Frankfurt a. M. 2005

[6] Ebd., S. 51

[7] Herz Sutra, Deutsche Übersetzung nach Taisen Deshimaru Roshi, zit. nach Wikisource

[8] Sawaki, Kōdō, An Dich, S. 99, Frankfurt a. M. 2002

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