Christine Vogt

 
Die gezeichnete Geste

Eine unverwechselbare und schnell erkennbare Handschrift hat der Zeichner Matthias Beckmann entwickelt und das mit einfachsten Mitteln. Der Druckbleistift, das Zeichenpapier und die Konturlinie sind seine Werkzeuge. Diese geben ihm die Möglichkeit den Moment, die Beobachtung vor Ort, mit wenigen Strichen konzis und präzise festzuhalten. Er selber schildert seine Arbeitsweise nicht anders als bei den Künstlern des 19. Jahrhunderts. Man begab sich an einen Ort, damals bevorzugt Italien, studierte antike Bauwerke und zog in die unverfälschte, arkadische Landschaft, die man in sorgfältigen Zeichnungen und Aquarellen festhielt. 1 Genauso reist er an die verschiedensten Orte – nicht nur Italien und hält die für ihn relevanten Momente im Detail und Anschnitt fest.

Mit der reinen Linienzeichnung nach der Natur, die heute sein Markenzeichen ist, hat Beckmann 2001 während eines Stipendienaufenthalts in Paris begonnen. Er wollte als Flaneur ein visuelles Tagebuch führen. „Durch die Reduktion auf die Linie kann man eine Zeichnung in relativ kurzer Zeit erstellen und auch bewegte Situationen schnell erfassen. Einen Strich setzen und nicht verändern, das ist auch ein Anliegen.“ Kleine Fehler oder perspektivische Ungenauigkeiten nehme er dabei in Kauf, der Gesamtzusammenhang und die Schönheit der Linie interessiere ihn mehr.

Museen sind von Anfang an seine favorisierten Orte. Das dort immer wieder stattfindende Anfertigen von fotografischen Schnappschüssen vor den großen Meisterwerken hat ihn inspiriert selber Momentaufnahmen festzuhalten. Dabei ist es aber nicht die Kamera, sondern der Zeichenstift, der den Augenblick auf Papier bannt. Als guter Beobachter mit einem Blick für Skurriles und Merkwürdigkeiten wählt er häufig ungewöhnliche Motive. Besonders das Verhalten der Museumsbesucher interessiert ihn. Immer wieder sind Menschen mit auf den Bildern, die in ihrer Beiläufigkeit manchmal zum Inventar werden.

Aber auch die ungewöhnlichen Perspektiven, die Museumsbauten häufig bieten, interessieren ihn. Stürzende Linien, Räume, die ineinander übergehen, darin dann Kunstwerke, die miteinander in Berührung kommen. Manchmal können das auch Dinge sein, die nicht recht zusammenpassen. Bei seinem Besuch der Berlinischen Galerie begegnen sich „…plötzlich, im Vorbeigehen, zwei in ihrer Ästhetik und künstlerischen Haltung unvereinbare Museumsbilder“, die hier optisch aneinander geraten. 

Neben den großen Raumblicken ist es das starke Heranzoomen der Details, manchmal bis zur Unkenntlichkeit des aufgenommenen Gegenstandes, das immer wieder vorkommt. Das sogenannte close up, das auch in der Fotografie und dem Film zur Inszenierung genutzt wird, kommt hier zur Anwendung. Manchmal in sehr starker Form. Matthias Beckmann ist ein Beobachter, ein Beobachter mit gutem Blick und gutem Humor. So finden sich immer wieder Details, die zum Schmunzeln anregen und die Kuriositäten und Fragwürdigkeiten der beobachteten Szene herausarbeiten.

Mit diesem Blick hat er nun auch die LUDWIG-GALERIE beim Aufbau der großen Jubiläumsausstellung zu ihrem 20-jährigen Bestehen beobachtet. Über eine Woche hat Matthias Beckmann den Aufbau der Ausstellung zum Thema DIE GESTE mit Meisterwerken aus der Sammlung Peter und Irene Ludwig begleitet. Und die entstandenen Zeichnungen sind ganz typisch für ihn. Mit einem kleinen Klappstühlchen als zusätzlichem Hilfsmittel neben Papier und Bleistift durchstreift er tagelang die Ausstellungsräume und beobachtet das Fortschreiten des Ausstellungsaufbaus. Kuriose Situationen und Architektur, eigenwillige Anschnitte und Menschen im Raum interessieren ihn. Dabei scheint der Blick sich immer weiter ins Detail heranzuzoomen.

Zunächst ist es der Blick von außen, vom Innenhof des Schlosses Oberhausen, in die sogenannte Vitrine (Titelabbildung), den Glasanbau des Architekturbüros Eller und Eller, der vor 20 Jahren zur Neuausrichtung als LUDWIGGALERIE entstanden ist. Neben den Architekturelementen von Glaswand, modernem Treppenhaus und der dahinter liegenden historischen Fassade sind es vor allem die aufgestellten Klima- und Transportkisten, die den Blick auf sich ziehen. Ihre Nummerierungen verweisen auf die Ordnungssysteme, die große Ausstellungsprojekte für ihre organisatorische Abwicklung benötigen. Davor zeigt sich ein Aufsteller, in dem bereits das Plakat für die kommende Ausstellung DIE GESTE erscheint. Das Hauptmotiv der Ausstellung, Roy Lichtensteins Finger Pointing, wäre auch ohne den Ausstellungstitel eindeutig erkennbar.

Andere Zeichnungen beschäftigen sich mit der Architektur im Inneren. Das Haupthaus der heutigen LUDWIGGALERIE ist in den 1950er Jahren wegen Bergschäden niedergelegt und mit Geld der Gutehofnungshütte 1959/60 nach alten Plänen 5 reduziert wiederaufgebaut worden. Es hat zu dieser Zeit in einem der Seitenflügel ein prägnantes Treppenhaus erhalten. Aus diesem Raum heraus nimmt Beckmann die Etagen wahr und sieht – angeschnitten – eines der vom Format her größten Werke der Ausstellung: Johannes Grützkes Fünf nackte Frauen aus dem Jahr 1973. In der Zeichnung dominiert jedoch der Raumbezug (Abb. S. 5). Das Geländer wird zum wichtigen Element, wirkt als Riegel und ist dennoch nicht störend. Die geometrischen Motive sind von großer Bedeutung.

Ebenfalls monumental schreitet Wolfgang Mattheuers Jahrhundertschritt auf den Betrachter zu (Abb. S. 6). Doch auch hier wird die Architektur des Raumes mit ihren stützenden Pfeilern und Unterzügen klar geschildert. Und die vielen Merkwürdigkeiten, die ein Ausstellungsumbau mit sich bringt. Die Sicherungsschienung am Arm der Skulptur, die Filze zum Stoßschutz der Bilder und natürlich die unvermeidliche Leiter. Doch Beckmann schaut genauer hin, nimmt die Schattenwürfe und Spiegelungen auf dem hellgrauen Boden der LUDWIGGALERIE mit auf, und sogar auf dem rechten Unterzug findet sich ein Lichtreflex, der von der gegenüberliegenden Tür kommen muss.

Wie bei seinen Beobachtungen in für den Besucherverkehr geöfneten Museen, beobachtet der Zeichner auch beim Ausstellungsaufbau die agierenden Menschen. Zwei der Techniker 7 sind dabei das Diptychon der Wiener Malerin Xenia Hausner aufzuhängen (Abb. S. 11). Rechts an der Wand steht Otto Pankoks Hoto II von 1932. Die Zeichnung zeigt leere Bereiche vor allem im Vordergrund, nur der benachbarte Tisch ragt mit hinein.

Und dann gibt es noch die nah herangeholten Motive, die vom Zoomen und dem close up inspiriert sind. Ein angeschnittener Blick auf verschiedene Motive. Das bewegliche Kruzifix liegt noch auf einer Decke und wartet darauf in der Pose des Gekreuzigten an die Wand gebracht zu werden. Rechts zeigen sich Dietmar Ullrichs Zuschauer, die 1973 der Sonnenfinsternis zusehen. Der direkte Blick ist allerdings auf die Verdoppelung von Klaus Staecks Fromage à Dürer gerichtet. Das alte Motiv der Betenden Hände aufnehmend, hatte Staeck zum Jubiläumsjahr 1971 eine Reihe von Dürer-Werken in abgewandelter und kritischkommentierender Form als Postkarten und Plakate aufgelegt. Beckmanns intensiver Blick verbindet all diese Details und bringt den Betrachter in die Position, ebenfalls als Beobachter nicht für die Öfentlichkeit bestimmter Momente mit dabei zu sein.

Höchst erstaunlich ist dabei der Detailreichtum in den Zeichnungen, obwohl allein die Kontur ohne Binnenschraffuren die Situation schildert. Beckmann ist ein Meister der Reduktion, er ist in der Lage dem Wenigen eine große Fülle mitzugeben. Der Betrachter ist in der Lage, anhand der angelegten Einblicke, diese mit eigener Phantasie und eigenen Details zu ergänzen. Manchmal erscheint es sogar, dass die Dinge aus ihrem Papierweiß und Grau des Bleistiftes in ein farbiges Ganzes übersetzt werden. Mit dieser Zeichnungsserie zum 20-jährigen Jubiläum gibt Beckmann intime Einblicke in die Arbeit der LUDWIGGALERIE, die sonst nicht nur den Besucherinnen und Besuchern verschlossen bleiben, sondern die auch von den hier arbeitenden Menschen so nicht wahrgenommen werden. Ein neuer Blick auf eigentlich Vertrautes.

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