Andreas Bee

 
Gibt es den Mond, wenn keiner hinsieht?

Es mehren sich die Tage, an denen ich mich über Dinge freue, die ich nicht habe. So bin ich mittlerweile froh darüber, kein Hausbesitzer zu sein, kein Auto und kein Boot instand halten zu müssen und auch nicht mehr unter dem stillen, aber fordernden Druck einer beständig wachsenden Ansammlung von Büchern und Kunstwerken zu stehen. Ich bin glücklich, in meiner Wohnung ein paar Wände ohne Regale und Bilder zu sehen, und ich freue ich mich bei einer Zeichnung von Matthias Beckmann nicht nur über das, was da ist, sondern auch über das, was nicht da ist. Das geschieht meist wie von selbst, und doch braucht es ein wenig Übung, um zu beschreiben, was da vor sich geht, denn das Verhältnis von Figur und Grund – zwischen dem, was ist und nicht ist – ist eine komplizierte, aber eben auch eine stimulierende Angelegenheit.

Figur und Grund gehören zusammen. Wo das eine ist, da ist auch das andere. Gewöhnlich interessieren wir uns ausschließlich für die Figuren und, wenn überhaupt, nur beiläufig für den Grund. Manch einer meint, Grund sei lediglich das, was die Figuren brauchen, um zu erscheinen.

Da sitzen und stehen beispielsweise drei junge Besucher des Hessentags als Teufelchen kostümiert am Straßenrand. Zwei Figuren lassen sich als junge Mädchen charakterisieren, denen es offenbar genügte, ihre Sympathie für ihr diabolisches Vorbild durch kleine, aus ihrem Haar ragende Hörner auszudrücken. Sie hocken auf dem durch eine diagonale Linie angedeutetem Trottoir. Die dritte Figur der Gruppe steht rechts davon und wendet dem Betrachter den Rücken zu. Sie trägt nicht nur die an einem Reif befestigten kleinen Hörner, sondern vermutlich eine das eigene Haar verdeckende Maske und einen weiten, gut hüftlangen Vampirumhang mit hochgestelltem Kragen. Neben ihr sehen wir noch eine Art Leiterwagen, an dem eine ebenfalls mit kleinen Hörnern ausstaffierte Puppe befestigt ist. Es scheint ein warmer Tag gewesen zu sein, an dem Beckmann diese Zeichnung fertigte, denn die am Straßenrand sitzenden Mädchen tragen kurzärmelige Shirts und kurze Röcke oder Hosen.

Das Blatt Papier, auf dem diese Szene sichtbar wird, scheint wie selbstverständlich da zu sein. So selbstverständlich wie ein weißes DIN-A-4-Papier im Drucker, das dort nur darauf wartet, einen Schriftsatz wie diesen aufzunehmen oder die Grundlage für eine Grafik abzugeben. Ja, es versteht sich bis zu einem gewissen Punkt tatsächlich von selbst, dass das Blatt da ist, aber eben nicht nur und deshalb lohnt es sich, der Frage nachzugehen, wie der Grund als solcher von uns wahrgenommen wird. Wie verändern die Figuren auf dem flachen Blatt das, was durch sie, die Figuren, unwillkürlich mit wahrgenommen wird? Welche Rolle spielt der Rand des Blattes, welche Rolle der Rahmen und die Wand, an der das Bild schließlich und selbstverständlich hängt, wie das Kind an der Mutter?

Natürlich können wir den Grund nicht zum eigenständigen Thema machen, denn dann wäre er selbst schon wieder Figur. Aber mittelbar lässt sich beschreiben, was das ist, dieser Grund. Durch die Figuren auf der Fläche erst wird er sichtbar. Dadurch, dass eine Figur den Grund teilweise verdeckt und sich gleichzeitig von ihm abhebt, wird deutlich, dass das Weiß des unbezeichneten Blattes nicht dasselbe ist wie beispielsweise das Weiß im Blatt mit den Teufelchen. Würden wir diese Figuren ausradieren, so verschwände zwar nicht das Papier, aber der Grund, von dem hier die Rede ist.

Es ist immer wieder von Neuem erstaunlich: Die Figuren, die rein materiell betrachtet dem Papier aufgetragen sind und den Grund verdecken, kleben in unserer Wahrnehmung nicht auf diesem Grund fest. Wir wissen zwar, dass zwischen den Bleistiftstrichen und dem Grund kein Raum ist, Figur und Grund also auf gleichem Niveau sind, dennoch erscheint es uns so, als würden sich die Figuren vom Grund abheben, als stünden sie in einer Art Luftraum. Ob wir wollen oder nicht, es entsteht der Eindruck, als weiche der Grund nach hinten aus. „Zwischen Figur und Grund als visuelle Gegebenheiten gibt es einen Abstand. Das stoffliche Paar liegt aufeinander, das figurative wahrt Distanz. Beide Paare fallen nicht in eins. Insbesondere ist der Grund nicht identisch mit der stofflichen Fläche. Doch er ist abhängig von ihr, er braucht sie als Substrat, um überhaupt existieren zu können.“[1]

Erst die Figuren verleihen dem Grund also Anwesenheit. Für dieses ambivalente Verhältnis bei mir ein Bewusstsein geweckt zu haben, das ist bis heute eine besondere Eigenschaft der Zeichnungen von Matthias Beckmann. Ja, man könnte sogar sagen, dass dieses spezielle Verhältnis von Figur und Grund die Zeichnungen von Beckmann charakterisiert und unverwechselbar macht.

Doch kehren wir nach dieser kurzen Andeutung eines hochkomplexen Beziehungsgeflechtes, das in seinen feinen Verästelungen durchaus die Fähigkeit besitzt, dem Betrachter gehörig den Kopf zu verdrehen, noch einmal zurück zur reinen Figur. Lassen wir den das Werk vitalisierenden Dialog zwischen den Bleistiftstrichen und dem Grund sich im Stillen entfalten. Vergessen wir auch für einen Moment, dass man als Künstler stets in einer anscheinend verkehrten Welt lebt, in der sich alles Formale zum Inhaltlichen und alles sogenannte Inhaltliche zum bloß Formalen wendet. Dann könnten wir vielleicht mit Fug behaupten: Diese Zeichnungen stammen von einem Menschen, dem eine spezielle und nicht zuletzt erhöhte Sensibilität gegenüber der Welt und den Dingen, die nicht im Fokus stehen, eigen ist.

„Wenn der Finger auf den Mond zeigt, schaut der Idiot nur auf den Finger“, lautet ein chinesisches Sprichwort. Doch manchmal ist tatsächlich der Finger genauso schön und interessant wie das, worauf er verweist. Dann wird der Idiot plötzlich zum hellsichtigen Menschen und das Vehikel zum eigentlichen Ereignis. Wie die Hüte, die Pfütze, die Wolke, die Bühnenrückseite, die Absperrgitter, die zahlreichen Rückenfiguren und all die anderen Randereignisse und schönen Nebensächlichkeiten.

Wem es gelingt, dem direkten, dem unauffälligen, dem verstohlenen und dem indiskreten Blick von Matthias Beckmann zu folgen, der wird belohnt und findet möglicherweise sich selbst in einer Position wieder, aus der heraus er die Lust am Schauen auf ganz subtile Weise genießen kann. Auch für den jungen Franz Kafka wurde einst eine Randfigur zum zentralen Anschauungsobjekt. Sie schiebt sich plötzlich und völlig unerwartet in sein Blickfeld. Sie steht plötzlich einfach da, auf der Plattform einer Straßenbahn, ganz ohne Scham, und bindet für einen kurzen, aber heftigen Moment alle Aufmerksamkeit des Betrachters:

„Der Wagen nähert sich einer Haltestelle, ein Mädchen stellt sich nahe den Stufen, zum Aussteigen bereit. Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie betastet hätte. Sie ist schwarz gekleidet, die Rockfalten bewegen sich fast nicht, die Bluse ist knapp und hat einen Kragen aus weißer kleinmaschiger Spitze, die linke Hand hält sie flach an die Wand, der Schirm in ihrer Rechten steht auf der zweitobersten Stufe. Ihr Gesicht ist braun, die Nase, an den Seiten schwach gepreßt, schließt rund und breit ab. Sie hat viel braunes Haar und verwehte Härchen an der rechten Schläfe. Ihr kleines Ohr liegt eng an, doch sehe ich, da ich nahe stehe, den ganzen Rücken der rechten Ohrmuschel und den Schatten an der Wurzel.

Ich fragte mich damals: Wieso kommt es, daß sie nicht über sich verwundert ist, daß sie den Mund geschlossen hält und nichts dergleichen sagt?“[2]

Ganz in diesem Sinne notiert Matthias Beckmann die Begebenheiten auf dem Hessentag. Ebenso wie in der Erzählung Kafkas könnten wir uns fragen: Wieso sind die Teufelchen und all die anderen Menschen, die uns in den Zeichnungen begegnen, nicht selbst über sich verwundert? Und wieso wundern wir, die Betrachter der Zeichnungen, uns nicht ständig über das, was sich zwischen Figur und Grund abspielt?


[1] Manfred Sommer, Von der Bildfläche, Berlin 2016, S. 203

[2] Der Fahrgast, in: Franz Kafka, Meistererzählungen, Frankfurt a. M. 1970, S. 19

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